Schweigen im Wartezimmer

„Der Tag ist 24 Stunden lang, aber unterschiedlich breit“, hat Wolfgang Neuss gesagt. Besonders breit ist er für mich in Wartezimmern von Arztpraxen. Man trifft dort ja selten Bekannte, mit denen man sich die Zeit durch ein Gespräch verkürzen kann. Wie soll man dort mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommen? Man kann ja schlecht fragen: „Geht es Ihnen auch nicht gut?“ Wer keine Löcher ins Handy oder in die Luft starren will, greift zu den betagten Frauenzeitschriften. Das tun sogar Männer in Arztpraxen. Die Hoffnung, dass ein Sudoku oder ein Kreuzworträtsel noch nicht ausgefüllt ist, erfüllt sich in gut frequentierten Praxen nie. Aber in einer der abgegriffenen Frauenzeitschriften machte ich jetzt auf der letzten Seite eine erstaunliche Entdeckung. Da war ein Gedicht von Rilke abgedruckt. Es beginnt mit den Zeilen „Die Nacht holt heimlich durch des Vorhangs Falten aus deinem Haar vergessenen Sonnenschein …“ Das ist Wortmusik in meinen Ohren. Ich habe in diesem Augenblick auch an Jogi Löw denken müssen. Der kann nämlich etwas, was ich nicht kann. Er kann Rilke auswendig. Als sich Löw 2016, nach einem Europameisterschafts-Spiel wieder einmal von einem Journalisten anhören musste, dass das letzte Tor doch zu vermeiden gewesen wäre, hat er grandios reagiert. Der Bundestrainer hat das Gedicht „Der Ball“ von Rilke zitiert.
Die Fangemeinde von Rilke ist groß. Ob Helmut Kohl auch dazu gehörte, bezweifele ich, obwohl er im eisigkalten April 1989 Rilkes Grab in Raron besucht hat. Ich denke, weil Kohl dachte, das gehört sich so, wenn man in der Schweiz auf Staatsbesuch ist. Kohl war Fan vom Pfälzer Saumagen. Wenn er auch von Rilke geschwärmt hätte, wäre uns das sicher nicht verborgen geblieben.
Die Seite mit dem Gedicht von Rilke aus der Frauenzeitschrift in der Arztpraxis habe ich übrigens rausgerissen. Wäre sie in einem Buch gewesen, hätte ich das nie getan. Aber betagte Zeitschriften werden irgendwann entsorgt. Durch mein Tun habe ich eins von Rilkes Gedichten vor der Versenkung in der blauen Tonne bewahrt.
Unauffällig konnte ich die Seite nicht entfernen. Das Ritsch und Ratsch wurde mit strafenden Blicken kommentiert. Schade, dass sich niemand aufgeregt hat. Dann wäre doch noch ein Gespräch entstanden. Ich hätte mich gerne gerechtfertigt und gebettelt: „Ach, gönnen Sie mir doch dieses Gedicht von einem großartigen Dichter für meine Pinnwand. Lassen Sie mich doch bitte seine Worte nach Hause tragen. Lady Gaga trägt Rilkes Worte sogar auf der Haut. Wussten Sie das?“
Die herausgerissene Seite habe ich zusammengefaltet und vor aller Augen in meine Handtasche gesteckt. Im Wartezimmer blieb es bis zu meinem Aufruf so wie im Wanderers Nachtlied von Gothe. Es herrschte Schweigen im Walde.

August 2017