Angekommen

Am 23. Januar 2018 hatte ich bei Thalia in Rostock eine Lesung. Für diese Veranstaltung habe ich eine Geschichte geschrieben. Den Anfang habe ich hier eingestellt.
Ditte Clemens

Angekommen
Es ist über ein halbes Jahrhundert her, als meine Eltern mit mir von der Insel Rügen nach Rostock zogen. Ich fühlte mich wie ein Pinguin, den man von der vertrauten Antarktis mitten in New York ausgesetzt hatte.

Mir fehlte der Bauernhof meiner Großeltern. Er befand sich nur wenige Kilometer entfernt von einem Dorf, in dem ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in einer winzigen Wohnung gelebt hatte. Die Dorfschule war riesig. Der Schriftsteller Benno Pludra hatte sie die weiße Schule am Kubitzer Bodden genannt. Die Säulen vor dem Eingang sahen aus wie aus einem uralten Adelspalast. Aber die Schule war damals erst so alt wie ich – genau 10 Jahre.

Rostock verpasste mir einen Kulturschock. Keine Wiesen, sondern Straßen, die kein Ende nehmen wollten. Keine Stille mehr, wenn man vor die Haustür trat. Häuser groß wie Riesen, die mir den Blick auf den Himmel versperrten. Dem Wind, dem himmlischen Kind von der Insel Rügen, begegnete ich in Rostock nur in der Langen Straße.

Aber wenigstens schien es hier eine Kuh zu geben. Ich vermutete sie in dem Kellerladen an der Ecke von der St-.Georg Straße zur Herrmann- Straße. Jeden Tag musste ich dort Milch holen. Gesehen habe ich die Kuh nie. Ihre Milch schmeckte anders als die von den Kühen der Großeltern. Das lag nicht an der Kuh, sondern an dem Ladenbesitzer. Sein dünner, weißer, langer Daumen ragte tief in die Kanne hinein, wenn er die Milch einkellte.

Für meine Eltern bestätigten sich Fritz Reuters Worte. „Jeden Meckelnbörger geiht dat Hart up und männigmal ok de Geldbüdel, wenn von Rostock de Red‘ ist.“

Rostock war für meine Eltern das Paradies. Es bestand aus einer 1 ½ Raumwohnung in der Paulstraße. In der Kochnische konnte nur eine Person hantieren. Meine forsche und schöne Mutter hatte festgelegt, dass diese Person mein Vater zu sein hatte. Es gab in der Rostocker Wohnung jedoch auch vieles, was wir in der ebenso winzigen Wohnung auf Rügen nicht hatten. Zum Beispiel eine Klingel, einen Briefkasten, eine Toilette, eine Badewanne, einen Flur, einen fast störungsfreien Empfang des Westfernsehens und Wasser aus der Wand. Auf der Insel kam das Wasser aus der Pumpe vor dem Haus und nach starken Regengüssen von der Zimmerdecke. Aber die Wohnung in Rostock empfand ich genauso eng um die Hüften wie die auf der Insel. Denn außer den zwei Kachelöfen, die schon drin standen, mussten auch noch zwei Erwachsene und zwei Kinder dort hinein.

Der Geldbütel, von dem Fritz Reuter gesprochen hatte, ging bei meinen Eltern nicht nur auf, wenn sie die Storchenbar besuchten, sondern nach jeder Straßenbahnfahrt mit mir. Fahrten mit Pferd und Wagen hatte mein Magen stets gelassen hingenommen. In der Straßenbahn drehte er sich bereits von einer zur nächsten Haltestelle um. „Bin ich vielleicht Rockefeller?“, fragte meine forsche und schöne Mutter die Schaffnerin, als sie erfuhr, dass die Reinigung meines Sitzplatzes so viel kostete wie 50 Fahrten mit der Straßenbahn.

Zur Schule musste ich die Straßenbahn zum Glück nicht benutzen. Aber der Weg von der Paulstraße in die Blücherstraße kam mir vor wie der Weg auf der Insel Rügen von einem Dorf zum anderen.

Ich wäre gerne im Winter 1962 nicht in die Schule am Wasserturm gegangen, sondern lieber in den Wasserturm, weil ich in den Pausen mächtig was auszuhalten hatte.

Januar 2018