Casanova behauptete, dass die Liebe zu drei Vierteln aus Neugier besteht. Nicht nur die Liebe, ich auch. Und es wird bei mir nicht weniger, denn meine Neugier wird immer wieder neu entfacht.
Kurz vor dem 1. Mai lag eine Karte in meinem Briefkasten. Darauf war das Datum 1. Mai und „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ zu lesen und zu sehen waren rauchende Fabrikschornsteine. Die Zeile aus einem alten deutschen Arbeiterlied kombiniert mit qualmenden Schloten hat mich wahnsinnig neugierig gemacht auf die Vernissage der Plakate des Grafikdesigners Klaus Staeck in der Galerie Rambow.
Als ich am 1. Mai am Domplatz 16 in Güstrow ankam, hatte das Teterower Schalmeien-Orchester gerade losgelegt. Nicht plakativ mit dem Lied „Brüder zur Sonne zur Freiheit“, sondern mit einem modernen Song, der in die Beine ging. Flotten Schrittes strömte ich mit den anderen Besuchern in das Backsteinhaus.
Wir standen in der geräumigen Galerie dichtgedrängt wie Ölsardinen, und wir standen lange, denn zur Vernissage sprach der Künstler und Kunsthistoriker Bazon Brock. Ein Philosoph, ein Querdenker und Schöpfer neuer Worte. So einem Mann mit einem unerschöpflichen Bildungsschatz zu folgen ist nicht einfach. Bazon Brock kam immer mehr in Fahrt und mein knurrender Magen auch. Das lag daran, dass ich seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte und ein Mann vor mir ständig sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. So erhaschte ich immer wieder einen Blick auf das noch unberührte Büfett. Beim Anblick knackiger Baguettes und eines weißleuchtenden Camemberts von der Größe eines Kinderwagenrades wurde der schräge Sound aus meiner Bauchhöhle immer lauter. Konzentriert blickte ich auf die ausgestellten Plakate. Unter die bekannte Bleistiftzeichnung von Dürers Mutter hat Klaus Staeck die Frage gesetzt hat „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“
Wegen dieser außergewöhnlichen Kombination von Bild und Wort, mit denen Klaus Staeck gesellschaftliche Missstände stets auf den Punkt bringt, nannte Bazon Brock den Grafikdesigner einen Meister.
Als der Geehrte nach den vorangegangenen Reden selbst auch noch längere Zeit zu den Besuchern sprach, klingelte plötzlich sein Handy. Er holte es aus der Jackentasche und blickte liebevoll zu einer Frau im Publikum, die auch ein Handy in der Hand hielt. „Oh“, sagte er, „mir wird gerade signalisiert, dass nun genug geredet wurde.“
Neugierig sprach ich nach dem Schlussapplaus die Frau mit dem Handy an. Nun weiß ich, dass Klaus Staeck eine humorvolle Freundin hat, und ich weiß auch, dass Neugier sogar Hungerattacken eindämpfen kann. Denn erst nach dem Gespräch mit ihr habe ich mir ein Stück vom Camembert geholt.
Mai 2017