Blicke in alle Kurzgeschichten


Die Kunst des Schenkens

„Die Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele“, hat Picasso gesagt. Wie sehr das auch auf die Kunst des Schenkens zutrifft, habe ich als Kind gelernt. Meine Großmutter machte wunderbare Geschenke, die nie teuer waren. Sie hatte kein eigenes Einkommen. Am Ende des Geldes war bei ihr immer noch viel Monat übrig. Aber ihre Geschenke brachten meine Seele zum Leuchten. Das Briefpapier, was ich zu Weihnachten von ihr bekam, hielt jahrelang, weil ich es nur für ganz besondere Anlässe benutzte. Oft kaufte sie gleich nach Weihnachten wieder für Weihnachten ein. Wer damals etwas Schönes für seine Lieben entdeckte, musste gleich zuschlagen, weil es kurz danach, wie die Verkäuferinnen zu sagen pflegten, schon wieder „aus“ war. Manchmal vergaß Großmutter jedoch, wo sie im Laufe des Jahres die Weihnachtsgeschenke abgelegt hatte.

Zu ihren Lieben gehörten nicht nur ihre Familie, sondern auch ihr Briefträger, ihr Arzt und ihre Nachbarin. Der Briefträger bekam kurz vor Heiligabend, neben dem frisch aufgebrühten Kaffee noch eine Zigarre spendiert. Wenn er sich die jedoch in der Küche angezündet hätte, wäre Großmutter ausgeflippt. Die Nachbarin bekam einen Kalender mit motivierenden Gedanken für jeden Tag. Sie nahm das eingepackte Geschenk sofort an sich und sagte: „Sie sollen mir doch nichts schenken. Ich habe doch alles.“ Das war gelogen. Jeder im Dorf wusste, dass sie keinen Mann hatte, aber unbedingt einen wollte. Großmutter hoffte, dass die flotten Gedanken diese griesgrämige Frau in eine begehrliche verwandelten.

Der Arzt von Großmutter bekam übrigens niemals Schokolade. Denn jeder Arzt jammert im Stillen im Dezember: „Wohin mit der ganzen Schokolade?“ Die meisten Pateinten, die Zulieferer, fragen sich das nie. Großmutter schenkte ihrem Arzt eine Flasche Hustensaft, in der zwar kein Hustensaft mehr war, sondern eine Abfüllung von ihrem berühmten Rumtopf. Die Geschenke meiner Großmutter waren genial. Sie machte sie nicht nur zur Weihnachtszeit, sondern manchmal einfach nur so.

Immer wenn Großmutters Sparschwein nicht mehr klötterte bekam es eins mit dem Hammer auf den Kopf. Mit viel Kleingeld und großer Einkaufstasche fuhr Großmutter nach Stralsund. Voll bepackt mit Dingen, die man eigentlich nicht braucht, aber die Herzen erfreuen, kehrte sie zurück. Heute nennt man das Shoppingtour. Meine Mutter behauptete, dass ihre Schwiegermutter ihr ganzes Geld verschätterte. Hat Großmutter aber nicht. Es war schließlich nur das Hartgeld von ihrem mühsam gemästeten Sparschwein. Davon kaufte sie kleine Geschenke für all ihre Lieben und auch immer ein Geschenk für sich.

Die Prophezeiung meiner Mutter, dass ich nach der Oma geraten könnte, ging in Erfüllung. Auch ich verschenke gerne mal eine Winzigkeit außerhalb der Weihnachtszeit, einfach nur so. Eine tolerante Freundin von mir bekam kürzlich eine Karte mit der Aufschrift „Kinder, Besoffene und Leggins sagen die Wahrheit.“ Sie freute sich ein Loch in ihren doch etwas größer gewordenen Bauch. Und weil mich eine Schwäche von mir wurmt, die ich endlich weglächeln möchte, habe ich mir auch eine Karte geschenkt. Auf der steht „Wenn man bedenkt, wie oft ich im Leben bereits falsch abgebogen bin, ist es ein Wunder, dass ich überhaupt noch auf diesem Planeten bin.“

(Kolumne für die Zeitschrift DELUXE, Mecklenburg – Schwerin)

Dezember 2019


Wahnsinn – die Linke

„Man müsste Klavier spielen können …“, sang Johannes Heesters einmal. Ja, Pianisten haben nicht nur Glück bei den Frauen, sondern begeistern viele Menschen. Mich auch. Und deshalb habe ich mich sehr auf das Novemberkonzert der Neubrandenburger Philharmonie im Güstrower Theater gefreut. „Maurice Ravel – Klavierkonzert für die linke Hand“

stand in der Ankündigung. Das hat mich neugierig gemacht. Wird es ein Genuss sein, wenn nur mit der linken Hand gespielt wird? Zumal die Linke auch für große Pianisten ein Sorgenkind sein soll. Interessiert hat mich auch, warum Ravel ein Stück geschrieben hat, in dem man die rechte Hand links liegen lässt?

Bei meinem Handwerk, dem Schreiben, bekomme ich überhaupt nichts mit links hin.  Ich war also mächtig gespannt auf diesen Konzertbesuch. Die Pianistin, Marianna Shirinyan, ist eine der gefragtesten Pianistinnen auf den internationalen Konzertpodien. Die schöne Armenierin hat mich mit ihrem Spiel tief beeindruckt. Wie dankbar bin ich Ravel für die Musik und der Pianistin für die Umsetzung. Es war ein Genuss. Ich hatte das Gefühl, dass beim Klavierspiel zwei Hände von Marianna Shirinyan im gekonnten Einsatz sind. Aber es war wirklich nur ihre Linke. Wahnsinn! Aber danken muss ich auch Paul Wittgenstein. Dieser Mann hat nämlich 1929 Ravel den Auftrag erteilt, ihm ein Klavierkonzert für die linke Hand zu schreiben. Wittgenstein war ebenfalls ein exzellenter Pianist. Nachdem er jedoch als Soldat im 1. Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, wollte er das Klavierspielen nicht aufgeben. Er war musikbesessen und zum Glück auch vermögend. So konnte er bei prominenten Komponisten Klavierwerke für die linke Hand in Auftrag geben. Aber meine Begeisterung für Wittgenstein hält sich in Grenzen. Er hat nämlich in Ravels Partitur Eingriffe vorgenommen. Ich kann gut verstehen, dass Ravel darüber mehr als erbost war. Es hat mich auch stets sehr zornig gemacht, wenn meinen Texten so etwas passierte.

„Der Zorn ist ein kurzer Wahnsinn“, schreibt Horaz. Und in solchen Momenten sehe ich nicht nur schlimm, sondern auch so alt aus wie Johannes Heesters, als er mit seinen 108 Jahren Petrus spielte.

November 2019


Geld und Charakter

Ich bereite mich gerade auf eine Lesung vor. Die Ostseesparkasse Rostock hat mich für den 6. November in eine ihrer Filialen in Güstrow zu einer Lesung eingeladen.

Die Sparkasse als regionales Unternehmen schätzt nicht nur meine Arbeit als heimische Schriftstellerin, sondern zeigt auch, dass sie für die Güstrower da ist.

Damit ich bei meiner Lesung den Angestellten der Sparkasse ebenfalls eine Freude machen kann, habe ich nach Zitaten von meinen Schriftstellerkollegen zum Thema Geld und Sparen gesucht. Wie immer bei der Suche nach Zitaten fand ich beim Googeln unendlich viele Zitate, notierte einige und werde nur wenige vorlesen.

Freude kam auch bei mir auf, weil die Sparkasse ein gerechtes Honorar für die Lesung zahlt, und ich als Güstrowerin keine lange Anreise habe. Es wird ja überall gespart. Viele Veranstalter bezahlen zum oftmals bescheidenen Honorar keine Fahrtkosten mehr. Und die Institutionen, die unsere Arbeit eigentlich am meisten schätzen müssten, sparen neuerdings auch noch oft das Honorar für Schriftsteller ein, in dem sie bei Lesungen für Kinder Lesepaten einladen. Ich finde es großartig, dass Rentnerinnen und Rentnern Kindern in Bibliotheken aus Büchern vorlesen. Sie haben Freude daran und die Leiter der Bibliotheken auch, weil sie ihren mageren Kassen schonen. Aber wir Bücherschreiber werden immer weniger eingesetzt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass eine Lesung mit einem Schriftsteller für Kinder ein besonderes Erlebnis ist und einige sogar zum eigenen Schreiben inspiriert.

„Vielleicht verdirbt Geld tatsächlich den Charakter. Auf keinen Fall aber macht ein Mangel an Geld ihn besser“, hat John Steinbeck gesagt.

Also sorgen Sie, wo immer Sie können dafür, dass wir Schriftsteller weiterhin unseren guten Charakter behalten.

Oktober 2019


Süchtig

Ich bin regelrecht süchtig nach jedem neuen Programm von der Band „Club der toten Dichter“. Es ist immer wieder spannend für mich, wie sie Texte von toten Dichtern neu beleben. Bei ihren Konzerten im Güstrower Theater war ich stets auf Wolke sieben.  Nach Heine, Rilke, Busch und Bukowski gab es nun einen Abend mit vertonten Fontane Gedichten. Die Band wurde von vielen Fans aus ganz Mecklenburg und von noch weiter weg mit stürmischem Applaus begrüßt.

Was im Scheinwerferlicht an der Bühnendecke wie Kronleuchter aussah, entpuppte sich beim genaueren Hinsehen als im Kreis angeordnete Handstöcke. Das passte zum Wandersmann Fontane, dachte ich. Und dass Reinhardt Repke, Gründer der Band, Frontmann und einer, der immer auf unendlich vielen Gitarren spielt, diesmal die Akkordeonistin Cathrin Pfeifer angeheuert hatte, war auch ein Volltreffer. Welch eine Klangfarbenpracht entlockte sie dem Instrument. Ein Wiedersehen gab es für mich mit dem großartigen Bassisten Markus Runzheimer. Der spielt so verinnerlicht, dass es aussieht als verbeuge er sich tief vor seinem Instrument. Und wie froh war ich, dass nach dem Rilke Konzert wieder Katharina Frank dabei war. Wer Rilke verstehen will, der muss den Panther von ihr hören. Und wenn sie Texte von Fontane mit Haut und Haaren singt, erfasst man die Worte des Dichters ganz neu.

„Noch da, John Maynard“, sang Katharina Frank. Ja, habe ich gedacht. Und wie er da war, ganz anders als zu meinen Schultagen. Da musste ich diese Ballade nämlich auswendig lernen.  Noch schlimmer war, wenn ich nach vorne musste, um sie aufzusagen. Vor Angst vor aller Augen stecken zu bleiben und vom Wunsch getrieben, es endlich hinter mich zu bringen, habe ich die elend lange Ballade im D-Zug Tempo runtergerattert. Da war kein Platz, um zu fühlen, was der Dichter uns hat sagen wollen.

Im Güstrower Theater hatte nicht nur ich nach John Maynard Tränen in den Augen. Fontanes Texte haben an diesem Abend mein Herz berührt. Sie werden noch lange in meinem Ohr sein, mich trösten oder ermuntern, weil sie so genial vertont wurden.

„Wat den eenen sin Uhl, is den annern sin Nachtigal“, heißt es bei mir im Norden. Und deshalb finde ich es gut, dass Reinhardt Repke vor 12 Jahren Liebeskummer hatte und deshalb zu Heines Worten „Ich hab im Traum geweinet“ eine Melodie erfand. So fing es an mit seinen Vertonungen. Und ich bin schon ganz süchtig zu erfahren, welchen Dichter er sich als nächstes vornimmt. Hoffentlich muss ich nicht zu lange auf ein neues Konzert warten, sonst bekomme ich Entzugserscheinungen.

September 2019


Wanderer im Wind

(zu einer Plastik von Ernst Barlach)

Der Wind beutelt den Mantel,

peitscht seinen Körper,

sitzt ihm im Genick.

Der Mann geht weiter

mit großem Schritt.

Er bewahrt seinen Hut

und behütet auch sich.

Ein weiter Weg

ist noch zu gehen.

Es kostet Kraft

in heulenden Winden

aufrecht zu stehn.

August 2019


Der Flötenbläser

(nach einer Plastik von Ernst Barlach)

Wie sollte ich dies Lied

nicht hören,

auch wenn es

noch so leis

und ungewöhnlich

klingt.

Kein Paukenschlag

kann es

mehr stören.

Wie sollte ich dies Lied

nicht hören,

wo meine Seele doch

mit jedem Ton

im Gleichklang

schwingt.

Juli 2019


Tanzende Alte

(zu einer Plastik von Ernst Barlach)

Uralt und arm

muss sie sein.

Die Jahre

kerbten sich bei ihr ein.

Doch sie fasst den Rock,

ein grobes Gewand,

als hätte sie

feinste Seide in der Hand.

Sie rafft ihn,

bringt ihn zum Schweben.

Ein altes Lied

lässt den schmalen Mund

wieder leben.

Ihre Füße

stampfen in derben Schuhen,

als ginge es darum,

nur nicht auszuruhen.

Als gelte es,

sich tanzend zu erheben,

tanzend,

gegen die Neige des Lebens.

Juni 2019


Eiliger Vater

Erzwungener Auszug – vom plötzlichen Auszug einer Mutter mit ihrem Kind, damit der eiligste Vater der Welt zu seiner Familie zurückfindet

Wir sind ausgerissen. Es war die Idee meiner Mutter. Sie hat mich damit überrumpelt. Und auch sie behauptet, dass sie gar nicht weglaufen wollte. Es ist alles ganz schön verworren, nicht wahr? Unsere Familie ist nämlich eine ganz besondere, denn ich habe den eiligsten Vater der Welt. Wenn ich ihn mir einmal genau ansehen will, nehme ich mir ein Foto.

Schon am frühen Morgen wirbelt er wie ein Papierknäuel durch die Wohnung. Er rennt durchs Bad, küsst statt mich die Zahnbürste und fragt verwundert: „Wächst dir schon ein Bart?“

Immer, wenn ich ihm erklären will, dass ich ein Mädchen bin, ist er schon wieder fort. Niemals hört er mir zu. Er kann auch nicht still sitzen. Stets frühstückt er im Laufen um den Frühstückstisch. Die Toastscheiben wippen auf und nieder, wenn er an uns vorbeiflitzt. Sein Frühstücksei isst er im Hinausgehen mit Schale. Er merkt es nicht, denn sein Mund ist vom heißen Kaffee ganz betäubt.

In Gedanken ist er längst bei seiner Arbeit, denn er verabschiedet sich jeden Morgen mit den Worten: „Entschuldigen Sie mich bitte, meine Herren.“ Mutter und ich haben es aufgegeben zu erklären, dass wir keine Männer sind.

Danach sehen wir Vater den ganzen Tag nicht. Irgendwann, wenn Mutter und ich bereits Abendbrot gegessen haben, kehrt er heim. Vater setzt sich mit seiner Aktentasche auf die Couch und stöhnt: „Endlich Feierabend.“ Er trinkt noch einen Schluck aus der Blumenvase und bittet Mutter, endlich einmal ein besseres Bier zu kaufen. Anschließend schläft er entweder in der Badewanne oder im Bett ein.

So geht es seit langer Zeit. Mich stört Vater nicht, denn ich kenne ihn nur flüchtig. Manchmal fragt er, was es in der Schule gibt. Je nach Laune sage ich die Wahrheit, oder ich erzähle ihm Blödsinn.

Einmal habe ich erzählt, ich hätte meine Lehrerin verhauen. Vater sagte: „Mach weiter so, mein Sohn.“ Er merkt wohl nie, dass ich ein Mädchen bin?

Vielleicht ist Mutter auch nur deshalb mit mir fortgegangen. Wir haben Vater keinen Zettel geschrieben. Wir sind einfach ausgerissen. Obwohl er doch der eiligste Vater der Welt ist, fand er uns erst nach zwei Wochen.

Nun sitzt er vor uns. Es ist ganz windstill im Zimmer, weil er sich nicht bewegt. Er schaut uns an, als hätten wir uns noch nie gesehen. Auch ich bin ganz still.

Wenn er jetzt nicht merkt, dass ich seine Tochter bin, begreift er es wohl nie.

(Aus meinem Buch „Die Frau im Schrank und andere Ausziehgechichten“)

Mai 2019


Hymne für Mecklenburg-Vorpommern

Mit diesem Text gehörte ich zu den vier Finalisten beim Wettbewerb „Ein neuer Klang für Mecklenburg- Vorpommern“

Die Komposition stammt von Gerald Uhlendorf.

Sieger wurden wir nicht, aber dieses Lied wird dennoch oft gespielt werden.

Mecklenburg-Vorpommerns tiefblaue Seen,

Straßen behütet von grünen Alleen.

Land voller Wärme, voll Ruhe und Zeit,

unter’m Himmel so offen und weit.

So bist du.

Mecklenburg-Vorpommerns Wiesen so grün

rapsgelb die Felder im Frühjahr erblühn.

Kraniche sind unsre Boten vom Glück

halten Rast, kehren immer zurück.

So bist du.

Mecklenburg-Vorpommerns wertvollster Schatz

sind unsere Menschen am heimischen Platz.

Zu neuem Leben sind wieder erwacht

Glanz der Städte und der Schlösser Pracht.

So bist du.

Mecklenburg-Vorpommerns Wellen und Meer

berühren die Herzen der Menschen so sehr

und taucht die Sonne rot auf aus der Flut,

atmen wir frei und fühlen uns gut.

So bist du.

April 2019



W-Worte für düstere Augenblicke

„Nichts gewinnt so sehr durch das Alter wie Brennholz, Wein, Freundschaft und Bücher.“ Weise Worte von Francis Bacon. Schade, dass das für mein Gesicht nicht  zutrifft. Nach Nächten, die nicht wegen rauschender Feste, sondern durch viel Arbeit sehr kurz waren, erschrecke ich mich am Morgen regelrecht vor meinem Spiegelbild. Vor allen Dingen, wenn die Haare noch nicht gekämmt sind, fällt mir nichts anderes ein als „wallala, weiala weia“ zu jammern. Das passt dann genau zu meinem Aussehen. Dieses Wortgewirr habe mir nicht ausgedacht, sondern bei Richard Wagner geklaut.

Es stammt aus “Rheingold“, der ersten Oper aus dem Ring der Nibelungen. Dort lässt Wagner drei Rheintöchter auftreten. Aus dem Munde einer dieser Schönen kommt das an das Rauschen von Wellen erinnernde Wortgewirr: „Weia! Waga! Woge, du Welle,  walle zur Wiege! Wagalaweia! Wallala, weiala weia!“ Diesen ganzen Text fehlerfrei hinzubekommen ist schon eine Leistung. Doch bei einer Aufführung im Jahre 1876 wurden die in Korsetts eingeschnürten Opernsängerinnen von einer Mechanik, die Wellen auf der Bühne simulierte, so durchgerüttelt, dass sie diesen Text modifizierten zu: „Weia! Oweia! Waglaweia! Wenn’s no lang dauert, muss i speia.“

Es gibt noch ein Wortungetüm mit W, auf das ich ein Auge geworfen habe. Noch bin ich am Üben, aber bald werde ich es benutzen. Nicht morgens vor dem Spiegel, sondern wenn ich am Schreibtisch sitze und wieder einmal durch eine telefonische Umfrage gestört werde. Weil mir Höflichkeit anerzogen wurde und Mitleid bei mir stark ausgeprägt ist, lege ich nicht gleich auf. Aber so wie man den gut geschulten Befragern den kleinen Finger reicht, klauen sie einem eine ganze Hand voller wertvoller Zeit. Mit diesem ungewöhnlichen Wort mit W könnte das anders werden. Ich kenne es von Karl Valentin, einem Komiker aus Bayern, der übrigens eng mit Brecht befreundet war. In einem Sketch spielt Valentin einen Radfahrer, der sich statt einer Klingel eine Autohupe ans Fahrrad montiert hat und noch etliche nicht vorschriftsmäßige Dinge.  Ein dienstbeflissener Schutzmann stoppt den Mann und will seinen Namen wissen. „Wrdlbrmpfd“ antwortet der Radfahrer. Ich übe diesen Namen bereits einige Zeit und kann ihn nun schon fast so gut wie Valentin aussprechen. Demnächst werde ich mich bei Umfragen so vorstellen. Ich hoffe, lästige Anrufer verhalten sich dann genauso wie der Schutzmann und suchen sofort das Weite.

(Aus meinem Buch „Wundersames Leben – Kolumnen 2011“, S. 25)

März 2019


Zarte Töne erregen die Gemüter

Beim Bügeln höre ich gern Ravels Bolero. Das Bügeln macht dann zwar auch nicht mehr Spaß, aber es geht mir flotter von der Hand. Musikkenner, die behaupten, dass ein Stück, in dem sich zwei Melodien achtmal wiederholen, so langweilig wie Techno ist, können mir den Bolero nicht vermiesen. Und auch nicht Ravel selbst, der einmal gesagt hat: „Mein Meisterwerk? Der Bolero natürlich. Schade nur, dass er überhaupt keine Musik enthält.“ Für mich ist er Musik in meinen Ohren und –  was für eine.

Selbst, als ich den Bolero einmal mit Mißtönen erlebte, wurde er mir nicht vergrault. Das war  vor einiger Zeit im Theater. Zu Querflöte und Klarinette hatten sich bereits Fagott, Oboe und Trompete gesellt. Ich wartete gespannt auf den Einsatz der Saxophone. Dann klingelte ein Handy. In die Reihen kam Bewegung, denn Männer und Frauen griffen erschrocken in ihre Jacken bzw. Handtaschen. Das Handygebimmel übertönte fast das Horn, das nun einsetzte. Ein älterer Mann in der Reihe vor mir, zischte sehr laut: „Dora, das bist du.“ „Iiiiiich“, rief seine Frau, „das kann gar nicht sein, kein Mensch hat meine Nummer, ich weiß sie ja selbst nicht mehr.“ Der Bolero schwoll an und die Zornesfalte an der Schläfe des Mannes auch. „Mach’s endlich aus“, herrschte er seine Frau an.

Erstaunlich, wie viele Dinge sie aus der kleinen Handtasche auf seinen Schoß befördern musste, bevor sie ans Handy kam. Die Klingeltöne steigerten sich in ihrer Intensität wie der Bolero. Zügig, aber fluchend, weil das Handy trotz intensiver Drückerei nicht schwieg, bewegte sich die Frau von der Mitte der 2. Reihe zum Ausgang. Entweder bekam sie es auch draußen nicht aus oder sie traute sich nicht mehr rein.

Nach dem Konzert stand ihr Mann mit all dem Kram, den seine Dora aus ihrer Handtasche auf seinen Schoß befördert hatte, an der Garderobe. Viele schenkten  dem Schwerbeladenen noch einen bösen Blick. Weil er aussah, als ob er sich wünschte, in diesem Augenblick so tot wie Ravel zu sein, flüsterte ich ihm zart wie eine der Pikkoloflöten zu: „Nicht ärgern, gegen den Bolero kommt auch kein Handyklingeln an. “ Ich bemühte mich ihn so freundlich anzulächeln, wie es vor zwei Tagen die Besucher bei meiner Lesung in einer Bibliothek getan hatten, nachdem ich nach der Begrüßung in einem forschen Ton gesagt hatte: „Ich hoffe Sie haben Ihre Handys ausgeschaltet“. Wenige Minuten danach schrillte eins los und zwar das in meiner Handtasche.

(Aus meinem Buch „Wundersames Leben – Kolumnen 2007″, S. 29)

Februar 2019


Besser als …

Ich hoffe, Sie halten mich nicht für einen Besserwisser, wenn ich heute einmal ausführlich über Dinge berichte, welche besser als andere sind.

Ich kenne eine Reihe von Menschen, die nach langer Arbeitssuche endlich Erfolg mit einer Anstellung hatten und dennoch am Abend stöhnen: „Besser gefeuert als verheizt zu werden.“

Wenn ich wieder einmal eine Kolumne geschrieben habe, klopfe ich mir auf die Schulter und sage mir: „Besser Einfälle als Ausfälle.“

Aus dem Alten Testament ist bekannt „Besser zu zweit als allein.“ Aber für mich gilt auch „Besser allein als in böser Gemein.“

Früher war ich häufig in Gerichtssälen, weil ich über Prozesse geschrieben habe. Mir waren alle Richter sympatisch, die nach dem Grundsatz: „Besser schlichten als richten“ handelten. Ich sah dort so manchen Angeklagten, der sich sagte: „Besser ein magerer Vergleich als ein fetter Prozess.“

Allen, die sich jährlich mit ihrer Steuererklärung abmühen, kann ich nur anraten: „Besser sich frisieren als seine Bilanzen.“

Wenn ich in einer fremden Stadt auf der Suche nach einer bestimmten Straße bin, verhalte mich anders als fast alle Männer, denn ich sage mir: „Besser zweimal fragen, als einmal verlaufen.“

Meiner frisch verliebten Nichte, die noch eine Weile braucht, bis sie ihr Studium beendet hat, legte ich, als sie mit ihrem Schatz zum Zelten fuhr, wärmstens ans Herz: „Besser vorsehen als nachsehen.“

Bei all den Umzügen, die ich in meinem Leben schon gemacht habe, stellte sich bei den Trägern immer wieder heraus „Besser ein Freiwilliger als zehn Gezwungene.“

Als ich vor dem Standesamt meiner Stadt einen frisch gebackenen Ehemann erlebte, der überhaupt nicht aufhörten konnte die Braut zu küssen, sagte ich mir: „Besser ein stürmischer Bräutigam als ein windiger.“

Und wenn ich in meiner kleinen Kneipe einkehre, um ein frisch gezapftes Bier zu genießen, erlebe ich dort, wenn auch selten, Männer, die einen über den Durst getrunken haben. Dann denke ich: „Besser mit dem Fuß ausgleiten als mit der Zunge.“ Bei ihrer Heimkehr werden die Frauen wohl meinen: „Besser nicht genug als zuviel.“

Und jetzt mache ich mir einen Kaffee und lege die Beine hoch. „Besser eine ordentliche Ruhepause als pausenlose Unruhe“.

(Auszug aus meinem Buch „Wundersames Leben – Kolumnen 2007)

Januar 2019


Der letzte Baum

Einmal hatten wir den letzten Baum, oder mit den Worten meiner
Mutter gesagt, es war der ALLERALLERLETZTE. Vater war einfach
zu spät losgegangen.
Als Mutter ihn mit seinem Mitbringsel erblickte, war sie der Meinung,
dass es völlig egal wäre, ob wir dieses Ding da oder ihren alten Besen
mit einer Lichterkette schmücken würden. Ihre Laune wurde auch
nicht besser, nachdem Vater ihr stolz erzählt hatte, dass er das
Bäumchen ganz umsonst und obendrein noch einen ganzen Sack
zusammengefegter Zweige geschenkt bekommen hat.
Mutter schüttelte sich und sagte: „Das Ding sieht so aus wie eine
ungerupfte Gans schmecken würde.“ Kopfschüttelnd verschwand sie
in der Küche.
Vater legte das platte Bäumchen behutsam auf den Wohnzimmertisch
und ernannte mich zu seiner OP-Schwester. Ich reichte ihm Bohrer,
Schnitzmesser, Meißel, Schrauben, Klebstoff und Pflaster.
Am späten Nachmittag waren wir mit der Schönheitsoperation fertig.
Alle Ersatzteilzweige waren aufgebraucht. Die Schnittstellen hatten
wir mit Lametta kaschiert. Keine Spur von braunen Nadeln, sie
strahlten im schönsten Grün aus meinem Tuschkasten. Unser
Bäumchen hatte sich wie einst Aschenputtel verwandelt. Es streckte so
erhaben seine Äste in die Höhe wie eine Filmdiva ihre Arme zum
Himmel richtet, wenn das Premierenpublikum ihr zujubelt.
„Na, was sagst du nun“, fragte Vater mit stolz geschwellter Brust.
„Einmalig“, antwortete Mutter, „so etwas hat keiner auf der ganzen
Welt, oder wisst ihr noch einen Ort, wo Kiefernzweige aus einer Tanne
ragen.“
(aus meinem Weihnachtsbuch „Vorfreude ohne Freude und andere
humorvolle Weihnachtsgeschichten)

Dezember 2018


November

Wenn alle Bäume Striptease machen,
müssen wir sehr wachsam sein.
November schleicht auf Nebelfährten,
haucht uns kalten Atem ein,
gießt uns Blei in alle Glieder,
schlägt mit seiner Keule zu.
Wer sich nicht wehrt,
schlägt er nieder.
In solchen Zeiten helfen Boxhandschuh.

November 2018


Das einzige Haar in der Suppe

Ich trage keine Haube, wenn ich Linsensuppe koche. Denn ich bin nicht in der Küche eines Nobelrestaurants beschäftigt, sondern ausschließlich am heimischen Herd. Und ich koche immer Linsensuppe, wenn meine Tochter mit ihrer Familie kommt.

Das einzige Haar, das mir beim Kochen ausfällt, findet immer meine Tochter in ihrer Suppe. Es ist eindeutig mein Haar, denn niemand außer mir am Tisch hat so feine, blonde Haare auf seinem Kopf.

Meine Tochter fischt das Haar ohne Kommentar heraus und lässt es schweigend zu Boden fallen. Sie holt sich trotzdem Nachschlag – manchmal sogar zweimal. Mein Schwiegersohn bedankt sich nach jeder Linsensuppe auf Schwedisch. Ich denke „tack för maten“ sagen stets alle Schweden, selbst dann, wenn ihnen das Essen nicht gemundet hat. Aber auch er holt sich stets Nachschlag.

Die siebenjährige Tochter meiner Tochter hebt nach dem ersten Löffel Linsensuppe ihren Arm hoch und ballt ihre kleine Hand zur Faust. Dann zeigt sie mit den Daumen nach unten und sagt: „So schmeckt Linsensuppe aus der Dose.“ Danach zeigt ihr Daumen zur Seite und sie sagt: „So schmeckt Linsensuppe, wenn Papa sie macht.“ Zum Schluss reckt sie den Daumen in die Höhe und sagt: „Und so schmeckt Linsensuppe von Oma.“

Die zweijährige Tochter meiner Tochter ruft nach jedem zweiten Löffel Suppe: „Leeeecker!“ Die Frage „Ist noch Suppe da?“ stellt keiner, denn ich koche stets zwei große Töpfe. Die Menge könnte für eine vierköpfige Familie und eine mitessende Köchin zwei Tage reichen, aber meine Linsensuppe schmeckt meiner Tochter und ihrem Mann auch kalt als Mitternachtssüppchen.

Ein Königreich für einen Teller Linsensuppe wurde mir in meiner Familie noch nicht angeboten. Ich würde das von meinen Kindern auch nicht annehmen, aber von wohlhabenden Fremden schon.
Ich wäre bereit mit ihnen wegen eines Tellers Linsensuppe einen Deal zu machen. Aber so weit wie Abrahams ältester Sohn würde ich nie gehen. In der Bibel wird nämlich berichtet, wie Esau, Abrahams jüngster Sohn, hungrig nach Hause kommt. Ihm steigt der Duft von Linsensuppe in die Nase. Sein Bruder Jakob hat sie gekocht und händigt dem Hungrigen erst dann einen Teller aus als, dieser ihm das Erstgeburtsrecht und damit den Doppelanteil am väterlichen Erbe zusichert.

Ich will mit meiner Linsensuppe nicht mein Konto, sondern mein Ego bereichern. Das Lob von meiner Tochter, ihrem Mann und ihren Kindern geht mir runter wie Butter. Und ich bin froh, dass meine Tochter das einzige Haar in ihrer Suppe nicht kommentiert. So blieb dieses Ereignis ihrer zweijährigen Tochter bisher verborgen. Einer der Lieblingssätze von dem Kind lautet nämlich „Mia auch.“ Man schmilzt dahin, wenn sie dann noch ein „bittäh“ hinterherschiebt. Ich gönne meinem Enkelkind wirklich alles, aber niemals ein Haar von mir in seiner Suppe.

Dennoch werde ich auch demnächst beim Kochen keine Haube tragen. Vor langer Zeit wurde mir beim Frisör zum Strähnchen färben eine aufgesetzt. Bis zu diesem Augenblick war ich tatsächlich der Meinung, dass einen schönen Menschen nichts entstellen kann. Welch ein Irrtum! Diesen Anblick muss ich der kleinen Mia ersparen. Es würde sie völlig verwirren, wenn ich mit einer Haube auf dem Kopf im Topf rühre. Sie will Linsensuppe von mir und keine, die ein hässlicher Gnom gekocht hat. Das Mädchen ist schnell zu erschrecken.

Als ich das letzte Mal bei meiner Tochter zu Besuch war, kam sie in Begleitung mit Mia in mein Zimmer. Es war Morgen und ich schlief noch zugeschüttet unter meinem Federbett. Und ich habe, wie man mir später mitteilte, tierisch geschnarcht. „Was ist das?“, fragte die Kleine mit weit aufgerissenen Augen, „Tiger?“

Meine Tochter antwortete: „Nein, Oma.“

PS: Interessierte erhalten nach Zusendung eines frankierten Briefumschlags das Rezept für die Linsensuppe und ein Haar von mir – solange der Vorrat reicht.

Oktober 2018


Nie zu früh und nie zu spät

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Nur für die
Deutsche Bahn trifft das nicht zu. Sie beschwindelt uns auch mit
ihrem Fahrplan. Das ist nämlich gar kein Fahrplan, sondern eine
unverbindliche Abfahrtsempfehlung. Warum nimmt sich die
Deutsche Bahn nicht die japanische Staatsbahn zum Vorbild?
Japan ist ein Paradies für Bahnreisende. Verspätungen wie in
Deutschland sind im Land der Morgenröte undenkbar. Als
Zugreisender in Deutschland ist man total verwundert, wenn
einmal keine Verspätung angesagt wird. Und alles unter sechs
Minuten zählt bei der Bahn gar nicht als Verspätung.
Unbegreiflich für alle, die Pünktlichkeit ernst nehmen. Das tun
immerhin 84 % der Menschen in Deutschland. Ich gehöre auch
dazu.
Deshalb fahre ich generell mit dem Auto zu meinen Lesungen.
Ein Vierteljahrhundert arbeite ich nun schon als Schriftstellerin.
In all den Jahren bin ich nur ein einziges Mal zu einer Lesung
vor einer Schulklasse zu spät gekommen. Das lag allerdings
nicht an mir, sondern an drei verirrten Kühen. Ich und viele
andere Autofahrer trödelten den Kühen im Schritttempo auf
einer Landstraße hinterher. Niemand hupte, um die Kühe nicht
zum Galoppieren zu animieren. Vielleicht hätten die Männer, die
den Kühen hinterherliefen, sie eher von der Straße bekommen,
wenn sie keine freundlichen Polizisten, sondern echte Cowboys
gewesen wären.
Die Lehrerin, die mich sehnlichst zur Lesung erwartete, lächelte
etwas verbissen, als ich endlich eintraf. Ich denke, sie hat mir
die Geschichte mit den Kühen nicht abgenommen und war wohl
der Meinung, dass Schriftsteller am frühen Morgen nicht so

schnell aus den Federn kommen. Aber ich gehöre tatsächlich
zur Fraktion der Superpünktlichen.
Nur bei einer Bekannten werde ich in diesem Jahr eine
Ausnahme machen. Sie hat wieder einmal zu ihrer Gartenparty
eingeladen und um pünktliches Erscheinen um 16.00 Uhr
gebeten. Ich werde diesmal, so wie es alle ihre Gäste schon
lange tun, frühestens um 16.30 Uhr vor ihrer Tür stehen. Im
letzten Jahr war ich nämlich pünktlich und wurde von ihr im
Bademantel mit den Worten begrüßt: „Deck schon mal den
Tisch im Garten. Ich dusche noch fix.“
Nur einmal in meinem Leben war es wirklich von Vorteil, als ich
zu früh war. Ich bin nämlich nicht wie geplant am 13.Oktober auf
die Welt gekommen, sondern bereits am 16. September. So
habe ich noch die milden und sonnigen Tage vom
Altweibersommer erwischt. Kälte und Stürme kamen erst später.
Im September Geburtstag zu haben ist großartig. Ich habe den
16.9. schon sehr viele Jahre gefeiert. Inzwischen sage ich:
„Wieder ein Jahr älter, so ein Glück.“ Ich freue mich, wenn man
mir gratuliert – aber bitte nie zu früh und nie zu spät. Eine
Jungfrau schätzt Pünktlichkeit und dieses Sternzeichen habe ich
mir schließlich selbst ausgesucht.

September 2018


Lebensverlängerung

Ich muss nicht in die Ferne schweifen. In meinem Land liegt das Gute so nah. Deshalb habe ich mich nach Mestlin aufgemacht. Wegen der vielen Storchennester nennt man es immer noch das Storchendorf. Zu DDR-Zeiten war es das einzig realisierte sozialistische Musterdorf. Das Kulturhaus, Mitte der 50er Jahre im neoklassizistischen Baustil errichtet, existiert noch.

Dank des Vereins „Denkmal Kultur Mestlin“ gibt es dort immer wieder interessante Ausstellungen. In diesem Sommer präsentiert der ehemalige Politiker André Brie Gemälde, Lithografien, Zeichnungen, Grafiken und Statuen. Es sind Arbeiten bekannter Künstler, die André Brie von ihnen geschenkt bekam oder erworben hat. Die Kunstsammlung von Brie hat mich sehr beeindruckt und auch die in der Ausstellung angebrachten kurzen Geschichten, in denen er erzählt, was ihn mit diesen Künstlern verbindet.

Im oberen Teil des Kulturhauses,  in dem die Kunstsammlung gezeigt wurde, hörte ich plötzlich aus einem Zimmer ein musikalisches Klappern, das mich an meine Jugend erinnerte.  Die Tür zum Zimmer war weit geöffnet. Dort entdeckte ich an einem Schreibtisch einen Mann, der vor seiner „Gabrielle“ saß. Wir kamen sofort ins Gespräch und er zu einer Arbeitspause.  Der junge Mann heißt Frank Osthoff, kommt aus Köln und hat Wurzeln in Mecklenburg. Sein Großvater lebte in Wendisch Waren  Mit seinem Projekt „TippStelle“ ist Frank Osthoff in verschiedenen öffentlichen und nicht öffentlichen Räumen in Mecklenburg, Köln und Düsseldorf unterwegs. Orte, Räume und Kommunikation lassen neue Texte entstehen.

Mich faszinierte das Schriftbild seiner Gabrielle. Die Buchstaben  meiner „Erika“, auf der ich früher meine ersten Texte geschrieben habe, waren nicht so elegant. Frank Osthoff  beherrscht das Zehnfingerschreibsystem perfekt. Ich praktizierte damals das Zweifingersuchsystem.

An den Wänden in der „TippStelle“ von Frank Osthoff erblickte ich viele Sprachspiele,  die mich zum Schmunzeln brachten. Im Foyer des Kulturhauses kaufte ich mir eins von seinen kleinen Büchern.

Dort fand ich den Text

Fernöstlicher Verdruss

In Japan lebt ein alter Mann

auf einem Berg aus Marzipan,

was ihn verdrießt, da man

mit Stäbchen es nicht

essen kann.

Frank Osthoff wird demnächst Post von mir bekommen.

Seine Anschrift: tippstelle@biskuitrollerückwärts.de

Seine Texte haben mich zum Lachen gebracht. Dafür muss ich mich bedanken, denn in einem chinesischen Sprichwort heißt es

„Jede Minute, die du lachst,  verlängert dein Leben um eine Stunde.“

August 2018


Aufgegangen

Irgendwann wird man ihn aus Mangel an Beweisen freisprechen müssen. Aber noch ist die Zahl derjenigen groß, die ihn beschuldigen, dass er, wenn er voll ist, ihnen den Schlaf raubt.   Früher hat man dem Mond noch mehr angelastet und behauptet er würde die Menschen aggressiv machen und sie in den Wahnsinn treiben. Im Englischen wurden Wahnsinnige über mehrere Jahrhunderte lunatic genannt.

Mir hat der Mond nie etwas getan. Schon als Kind war er für mich eine liebenswürdige Erscheinung. Die Japaner entdecken einen Hasen ihn ihm und die Westafrikaner ein Krokodil. Ich sehe noch heute stets das Gesicht eines alten weisen Mannes, der spanisch mit mir spricht. Seinen Mund hat er so geformt, als würde er mir ein Olè als Nachtgruß zuflüstern.

Goethe meinte sogar, dass er die Seele lösen könnte. Herder schrieb ihm zu, dass er alles aufhellt, was Nacht ist. Für Grillparzer ist er ein Tröster, für Glaßbrenner eine Liebessonne –  und für Kloppstock ein Gedankenfreund.

Mir geht das Herz auf, wenn er am Himmel erscheint oder im Abendlied von Matthias Claudius.

Der Mond ist aufgegangen

Die goldenen Sternlein prangen

Am Himmel hell und klar

Der Wald steht schwarz und schweiget

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.

Meine Großmutter kannte alle sieben Strophen und hat mir das Abendlied oft vorgesungen. Und ich kann mich auch noch gut erinnern, wie beeindruckt wir als Schulkinder waren, als wir erfuhren, dass der Mond für Ebbe und Flut  sorgt. Später, während meiner Studentenzeit,  – hat mir ein älterer Student in feuchtfröhlicher Runde erklärt, dass nicht der Mond Verursacher der Gezeiten ist, sondern Menschen aus der nordwestlichsten Region der Bundesrepublik.

„Als vor langer Zeit die Ostfriesen an die Küste kamen“, sagte er, „hat sich das Meer so erschreckt, dass es davongelaufen ist. Nun kommt es alle zwölf Stunden wieder, um nachzusehen, ob sie noch da sind.“

Witze über Ostfriesen kannte man auch in der DDR. Nach der Wende sind sie aber abgeebbt. Nun gibt es eine Flut von Mondkalendern.  Mein Handeln mag ich nicht nach den wechselnden Lichtgestalten des Mondes richten, aber meine Augen mit Vergnügen.

Und ich gebe zu, dass ich manchmal schon große Lust verspüre besonders nervige Menschen auf den Mond zu schießen. Ich weiß auch schon an welchem Tag. Und zwar am 27. Juli. Da ist nämlich eine totale Mondfinsternis. Wenn das möglich wäre, dann bliebe ich einmal genau 103 Minuten vor ihnen verschont.

Juli 2018


Ich rufe garantiert zurück

Ich blicke täglich auf ein Paradies herab. Dazu muss ich mich
nur ans Küchenfenster stellen. Es grünt so grün im Garten
meiner Nachbarn, der kaum größer als 250 Quadratmeter ist.
Auf dieser Fläche gedeihen unendlich viele Blumen,
Steingewächse und in Töpfen sogar Bäumchen. Ich vermute,
dass meine Nachbarn keine zehn Finger an ihren Händen
haben, sondern an jeder Hand fünf grüne Daumen. Was in ihren
Hochbeeten wächst, reicht aus, um Salatschüsseln für eine
ganze Kompanie zu füllen. Bei Gartenfreunden aus meinem
Bekanntenkreis hängen Trauben an den Reben, die schon vor
der Ernte wie Rosinen aussehen. Die Trauben meiner Nachbarn
sind voller Saft und Kraft und gleichen ihren Schwestern aus
dem sonnigen Süden von Deutschland. Meine Nachbarn haben
ihre Blumen so gepflanzt, wie gute Maler die Farben auf die
Leinwand setzen. In der Nacht verwandeln viele kleine
Solarlampen die grüne Oase in ein sanft schimmerndes
Glühwürmchen-Meer.
Am Ende des Gartens steht eine Volliere mit einem perfekt
eingerichteten Schutzhaus für Wellensittiche, Hühner und den
Papagei. Die Wellensittiche sehen aus wie viele, viele bunte
Smarties mit Flügeln. Die kleinen Vögel trällern zu allen
Jahreszeiten aus voller Kehle und scheinen sich mit dem
vorwiegend kühlen Wetter hier im Norden arrangiert zu haben.
Wenn mein Handy besonders schrill klingelt, gehe ich nicht ran,
weil ich weiß, dass mich nur wieder einer von den
hochbegabten Sittichen bluffen will. Die Hühner meiner
Nachbarn sind, wie alle Freilebenden, glücklich. Wenn sie ein Ei
gelegt haben, dann teilen sie das den anderen Hühnern und mir
lautstark mit. Ansonsten halten sie den Schnabel. Das würde ich
mir vom Papagei der Nachbarn auch wünschen.
Er ist die Schlange in meinem Paradies unter dem
Küchenfenster. Jeden Tag begrüßt er den Morgen mit lautem Gekrächze.

Er schlägt so regelmäßig an wie eine Kirchturmuhr
und zum Abend legt er dann noch mal richtig los. Der Papagei
krächzt wie mein antiker Schrank, dessen Türen sich wie von
Geisterhand öffnen, wenn er nicht abgeschlossen ist. Mein
Schrank ist jedoch einige Dezibel leiser als der Papagei meiner
Nachbarn. Ich höre den Papagei noch bei geschlossenem
Fenster. Wenn das Fenster offen ist, verstehe ich den
Nachrichtensprecher aus dem Radio nicht mehr richtig und
verpasse womöglich Weltbewegendes. Gestern hörte ich nur
„Donald Trump hat…“ Was der amerikanische Präsident schon
wieder angestellt hat, blieb mir verborgen.
Wenn der Papagei meiner Nachbarn ein Dauerkrächzen
anstimmt, höre ich auch die Wohnungsklingel und das Telefon
nicht mehr.
Deshalb richte ich diese Zeilen an alle Menschen, die mich
kontaktieren wollen.
Wer vor meiner Tür steht, sollte Sturm klingeln und wer mich
anruft, sollte so lange warten, bis der Anrufbeantworter
anspringt. Ich rufe, garantiert zurück. Falls dann eigenartige
Geräusche zu hören sind, liegt es nicht an der Leitung, sondern
daran, dass meine Nachbarn einen schlimmen Vogel haben.

Juni 2018


Schön, schöner, am schönsten

Dieser Mai war wärmer als warm. Er war der heißeste den ich je erlebt habe. Das ist nicht gelogen, denn zuletzt war es in Deutschland im Mai so warm, als Bismarck die Rentenversicherung eingeführt hat. Das war 1889 und ist somit 129 Jahre her.

Der Mai 2018 hat mich fertig gemacht, denn kaum hatte der Frühling zaghaft durch die Tür geschaut, überrollten mich tropische Temperaturen. Ich mag keine Affenhitze. Meine Wohlfühltemperatur liegt bei 23 Grad. Wenn ich ins Auto gestiegen bin, herrschten dort gefühlte 80 Grad. Aber im Gegensatz zur Sauna hatte ich im Auto bedeutend mehr an.


Meine Wohnung wurde auch immer mehr zu einem Brutkasten. Wenn ich meinen Abwasch gemacht habe, war das Geschirr zwar im Nu trocken, aber ich überhaupt nicht mehr. Noch nie habe ich so viel geschwitzt, ohne mich kaum zu bewegen. Am liebsten hätte ich mich in den Kühlschrank gelegt, aber der war voll. Bei so einer Hitze vergeht einem das Essen. Ich habe literweise lauwarmen Tee getrunken und mich wie ein Fass ohne Boden gefüllt. Wenn ich mal nicht zur Toilette unterwegs war, habe ich meine Füße in eine Schale mit eisigkaltem Wasser getaucht. Und ich habe festgestellt, dass bei Bullenhitze Wilhelm Buschs Worte nicht mehr wahr sind. Er hat nämlich gesagt: „Kalte Füße sind lästig, besonders die eigenen.“

Im heißen Mai habe ich die Zunge raus hängen lassen und gehechelt. Wenn Hunde das tun erhöht sich ihre Atemfrequenz von zirka 30 auf 300 bis 400 Atemzüge pro Minute und sie führen so die Wärme ab. Unsereins hyperventiliert, wenn er zu schnell hechelt.


Und unsereins hat leider auch keine Elefantenohren. Die könnte man bei Bullenhitze gut gebrauchen. Meine Ohren sind übrigens erstaunlich groß. Früher waren sie mir ein Dorn im Auge. In jeder Schulhofpause pustete mich einer von den Jungs von hinten an und rief: „Gleich segelt sie davon.“ Aber zum Wedeln, wie es die Elefanten tun, um die angestaute Wärme los zu werden, reicht das Ausmaß meiner Ohren leider nicht.


An Tagen, die wärmer als warm sind, werden die Stunden länger als lang. Ich konnte den Abend kaum erwarten und habe die lauwarme Nacht auf meinem Balkon innig herbei gesehnt. Und um Mitternacht habe ich zum Himmel gebetet: „Herr, es wäre nicht nur schön, sondern am schönsten, wenn du uns so einen heißen Mai in den nächsten 129 Jahren ersparst, und wenn dir das nicht möglich ist, dann gib wenigstens allen berufstätigen Menschen in solchen Zeiten Hitzefrei.“

Mai 2018


Der Brief

Zum ersten Mal hat er geschrieben,
da lösten sich die Wände ihres Zimmers auf.
Nur die gerahmten Bilder blieben
und stiegen zu den Wolken auf.
Keine Mauer mehr, die vor ihr steht.
Sie hockt sich auf die Sofadecke.
Mit dem Wind, der durch ihr Zimmer schwebt,
fliegt sie ein Stückchen um die Ecke.

April 2018


Elvira Hase hat die Nase voll – eine Ostergeschichte

Frau Elvira Hase war es schon lange ein Dorn im Auge, dass ihr Mann seinen Job als Osterhase nicht an den Nagel hängte. Wenn die anderen Häsinnen ihren Frühjahrsputz zum Osterfest machten, begann für sie eine Schweinerei, die ihresgleichen suchte. Noch Wochen nach dem Fest scheuerte sie Farbflecken von den Fußböden und Schränken.
Elvira schrubbte sich die Pfoten wund an den Töpfen und Pfannen, die ihr Mann zum Anrühren der Farben benutzte. Viele Stunden brauchte er, um die bemalten Eier zu verstecken. Erst am späten Ostersonntagmorgen kehrte Gustav mit leerer Kiepe von der Nachtschicht heim. „Einmal im Jahr so richtig arbeiten, ist was Feines“, sagte er, fiel auf die Couch und schnarchte bis zum Ostermontagabend.

Die anderen Hasen waren zum Osterfest mit ihren Häsinnen Arm in Arm durch den Wald spaziert. Elvira ließ sich draußen erst gar nicht blicken. Sie hatte keine Lust allein durch den Wald hüpfen.
In diesem Jahr ist meiner kein Osterhase mehr, schwor sich Elvira.
Von nun an wollte sie nur noch mit einem ganz normalen Hasen verheiratet sein. Mit Gustav darüber zu reden, erschien ihr ausweglos. Aber vielleicht könnte es ihr gelingen, seine Zulieferer zu einem Streik zu bewegen, dann wäre ihr Problem gelöst.

Kurz vor dem Fest machte sie sich deshalb zu den Hühnern auf den Weg, die für Gustav arbeiteten. Elvira klopfte an die Luke des Hühnerstalls, steckte ihren Kopf hindurch und sagte: „Könnten sie vielleicht in den nächsten Tagen das Legen lassen.“ „Wie bitte“, sagte das erste Huhn. „Die spinnt“, meinte das zweite und das dritte zeigte ihr einen Vogel. Dann ging das Gegacker erst richtig los: „Was denken Sie denn? Was raus muß, muß raus. Sollen wir vielleicht platzen?“

Bevor die Hühner zu Geiern wurden, machte sich Elvira aus dem Staub. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste Gustav die Pistole auf die Brust setzen. reden. „Wenn du weiter Osterhase sein willst, lasse ich mich scheiden“, sagte sie und ließ sich auf keine weitere Diskussion ein. en hopste Gustav starrte seine Frau entsetzt an. „Ich will keine Scheidung“, antwortete er.
Mit leuchtenden Augen drückte Elvira ihren Mann an ihre Brust. „Ich wusste, dass du dich für mich entscheidest“, jubelte sie. Um die Kinder sollte er sich keine Gedanken machen. Seine Entscheidung würde Elvira ihnen schon mitteilen.

Gleich am nächsten Morgen schrieb sie auf über hundert Zetteln „Es gibt keinen Osterhasen mehr.“ Zwei Tage vor dem Fest hatte Elvira alle Blätter im Revier ihres Mannes verteilt. „Ach, wie freue ich mich auf unseren Waldspaziergang. Das wird ein richtig schönes, ruhiges Fest“, trällerte sie und schwenkte ihr Schwänzchen. Doch, was war das plötzlich für ein Geräusch aus der Ferne? Die Häsin hielt sich die Ohren zu. Aber das Geräusch wurde immer stärker. „Was ist das?“, fragte Elvira ängstlich. „Das sind die Kinder“, antwortete Gustav, „sie weinen, weil es keinen Osterhasen mehr gibt.“

Am Abend war das Geräusch noch immer zu hören. Gustav ließ die Ohren hängen. Gegen Mitternacht berührten sie seine Schultern. „Nun reiß dich zusammen“, schimpfte seine Frau, „du siehst ja schon wie ein Dackel aus.“ Doch gegen Morgen hatte Elvira auch keine Nerven mehr. „Wie lange können Kinder weinen“, fragte sie ihren Mann. „Ewig“, antwortete Gustav.

Da gab sich Elvira einen Ruck. Sie riß ihren Mann aus dem Bett, hängte ihm und sich eine Kiepe um und rannte mit ihm zum Hühnerstall. Die Hühner saßen schon wie auf Kohlen, denn sie waren in all den Jahren an Pünktlichkeit gewöhnt. Dass ihr Chef seine Frau dabei hatte, verschlug ihnen die Sprache. Und überhaupt wirkte er so verändert. Richtig fremd kam er ihnen mit den hängenden Ohren vor. Während die Hühner ihm die Kiepen voll packten, flüsterten sie ihm zu: „Wenn ihre Frau sie nervt, dann können sie auch bei uns unterkommen.“ Mit Adleraugen blickten die Hühner den beiden nach.

Zu Hause traute Gustav seinen Augen nicht. Elvira rührte in Tassen, Töpfen und Pfannen die Farbe an. „Damit endlich das Geheule aufhört“, sagte sie und pinselte und kleckste. Je eifriger Elvira war, umso mehr richteten sich Gustavs Ohren auf. Als sie gemeinsam die Eier versteckten, sah ihr Mann keinem Dackel mehr ähnlich.

Gustav staunte nicht schlecht, welche Verstecke seine Frau wählte. Er war noch nie auf die Idee gekommen, nachts in die Häuser der Menschen zu schleichen. Doch Elvira fand es langweilig, die Eier immer nur in die Gärten zu legen. Sie versteckte sie in Hausschuhen, Zahnputzbechern und Hosentaschen. Sogar in eine über den Stuhl hängende Strumpfhose warf sie ein Ei. Gustav wurde übermütig und legte ein Ei in eine Waschmaschine.

Erst am späten Ostersonntagmorgen kehrten die beiden von ihrer Nachtschicht heim. Elvira und Gustav drückten ihre feuchten, glänzenden Nasen aneinander und umarmten sich. Dann fielen sie todmüde in ihr Ehebett und schnarchten gemeinsam bis zum Ostermontagmorgen.

März 2018


Neuer Stoff für meine Tagträume

Tagträume machen glücklich. Das habe ich schon immer gewusst. Doch als ich Kind war, hatten sie noch ein schlechtes Image. Ich wurde stets gerügt, wenn ich in der Schule oder zu Hause vor mich hinträumte.
Inzwischen haben Psychologen und Neurowissenschaftler herausgefunden, dass Tagträume uns kreativer, willensstärker und vor allen Dingen glücklich machen. Es werden inzwischen sogar Tagtraum- Techniken angeboten. Solche Kurse muss ich nicht besuchen. Ich kann mich, wann immer ich will, aus der Wirklichkeit wegbeamen.
Es gab aber auch Zeiten, in denen es mir nicht leicht viel. Während meines Studiums und als berufstätige Mutter fand ich kaum Zeit für mein Kopfkino.
Inzwischen bin ich wieder mit Leidenschaft Regisseur und Hauptdarsteller meiner Tagträume, die mich entspannen, weil sie mir, wenn der Alltag stressig ist, einen winzigen Kurzurlaub schenken. Meine Traumreisen führen mich zu wunderschönen Orten und zu wunderbaren Menschen. Und ich werde, was ich nie für möglich gehalten hätte, mich demnächst in meinen Tagträumen mit Kentauren treffen. Diese Mischwesen aus der griechischen Mythologie, halb Mensch – halb Tier, die ich bisher auf Brunnen und in Büchern gesehen hatte, erschienen mir jedoch eher etwas für Alpträume zu sein. Der Kentauer im Logo der Drogeriekette Rossmann ist nicht furchterregend, aber mir zum Träumen zu abstrakt. Aber die Kentauren eines Malers aus Leipzig sind perfekt für mein Traumreich.
Im Februar habe ich sie in der Ausstellung „Erich Kissing und Kerstin – Maler und Modell“ in der Rostocker Kunsthalle entdeckt. Von dem 1943 in Leipzig geborenen Künstler werden 60 Bilder, fast das gesamte Werk, gezeigt. Die Phantasie-Flugobjekte von Kissing und das Bild, auf dem Kosmonaut Sigmund Jähn von intergalaktischen nackten Amazonen begrüßt wird, haben mich begeistert. Aber die Bilder mit den Kentauren haben mich regelrecht umgehauen. Die Fabelwesen sind genau aus dem Stoff gemacht, aus dem ich mir am liebsten meine Träume stricke. Es sind Bilder, die monatelang mit feinstem Pinsel auf riesige Leinwände gestrichelt wurden. Die Augen suggerieren einem, dass man das Pferdefell spüre könnte, wenn man die Leinwand berührt.
Kissing hat Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert und war Schüler von Tübke und Mattheuer. Er ist ein bescheidener Mann und einer mit viel Humor. Auf dem Gemälde „Das Urteil des E.K.“ sieht man ihn als nackten Mann vor drei weiblichen Kentauren stehen. Er wird den Schönen nicht, wie es Paris bei seinen Auserwählten tat, einen Apfel, sondern eine Möhre reichen. Surrealismus mit Augenzwinkern und viel Sinnlichkeit. Kissings Kentauren nehme ich gern in meine Träume auf und sie werden mich sehr glücklich machen.

Februar 2018


Angekommen

Am 23. Januar 2018 hatte ich bei Thalia in Rostock eine Lesung. Für diese Veranstaltung habe ich eine Geschichte geschrieben. Den Anfang habe ich hier eingestellt.
Ditte Clemens

Angekommen
Es ist über ein halbes Jahrhundert her, als meine Eltern mit mir von der Insel Rügen nach Rostock zogen. Ich fühlte mich wie ein Pinguin, den man von der vertrauten Antarktis mitten in New York ausgesetzt hatte.

Mir fehlte der Bauernhof meiner Großeltern. Er befand sich nur wenige Kilometer entfernt von einem Dorf, in dem ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in einer winzigen Wohnung gelebt hatte. Die Dorfschule war riesig. Der Schriftsteller Benno Pludra hatte sie die weiße Schule am Kubitzer Bodden genannt. Die Säulen vor dem Eingang sahen aus wie aus einem uralten Adelspalast. Aber die Schule war damals erst so alt wie ich – genau 10 Jahre.

Rostock verpasste mir einen Kulturschock. Keine Wiesen, sondern Straßen, die kein Ende nehmen wollten. Keine Stille mehr, wenn man vor die Haustür trat. Häuser groß wie Riesen, die mir den Blick auf den Himmel versperrten. Dem Wind, dem himmlischen Kind von der Insel Rügen, begegnete ich in Rostock nur in der Langen Straße.

Aber wenigstens schien es hier eine Kuh zu geben. Ich vermutete sie in dem Kellerladen an der Ecke von der St-.Georg Straße zur Herrmann- Straße. Jeden Tag musste ich dort Milch holen. Gesehen habe ich die Kuh nie. Ihre Milch schmeckte anders als die von den Kühen der Großeltern. Das lag nicht an der Kuh, sondern an dem Ladenbesitzer. Sein dünner, weißer, langer Daumen ragte tief in die Kanne hinein, wenn er die Milch einkellte.

Für meine Eltern bestätigten sich Fritz Reuters Worte. „Jeden Meckelnbörger geiht dat Hart up und männigmal ok de Geldbüdel, wenn von Rostock de Red‘ ist.“

Rostock war für meine Eltern das Paradies. Es bestand aus einer 1 ½ Raumwohnung in der Paulstraße. In der Kochnische konnte nur eine Person hantieren. Meine forsche und schöne Mutter hatte festgelegt, dass diese Person mein Vater zu sein hatte. Es gab in der Rostocker Wohnung jedoch auch vieles, was wir in der ebenso winzigen Wohnung auf Rügen nicht hatten. Zum Beispiel eine Klingel, einen Briefkasten, eine Toilette, eine Badewanne, einen Flur, einen fast störungsfreien Empfang des Westfernsehens und Wasser aus der Wand. Auf der Insel kam das Wasser aus der Pumpe vor dem Haus und nach starken Regengüssen von der Zimmerdecke. Aber die Wohnung in Rostock empfand ich genauso eng um die Hüften wie die auf der Insel. Denn außer den zwei Kachelöfen, die schon drin standen, mussten auch noch zwei Erwachsene und zwei Kinder dort hinein.

Der Geldbütel, von dem Fritz Reuter gesprochen hatte, ging bei meinen Eltern nicht nur auf, wenn sie die Storchenbar besuchten, sondern nach jeder Straßenbahnfahrt mit mir. Fahrten mit Pferd und Wagen hatte mein Magen stets gelassen hingenommen. In der Straßenbahn drehte er sich bereits von einer zur nächsten Haltestelle um. „Bin ich vielleicht Rockefeller?“, fragte meine forsche und schöne Mutter die Schaffnerin, als sie erfuhr, dass die Reinigung meines Sitzplatzes so viel kostete wie 50 Fahrten mit der Straßenbahn.

Zur Schule musste ich die Straßenbahn zum Glück nicht benutzen. Aber der Weg von der Paulstraße in die Blücherstraße kam mir vor wie der Weg auf der Insel Rügen von einem Dorf zum anderen.

Ich wäre gerne im Winter 1962 nicht in die Schule am Wasserturm gegangen, sondern lieber in den Wasserturm, weil ich in den Pausen mächtig was auszuhalten hatte.

Januar 2018


Ein einmaliges Menü

Jahraus jahrein hatte ich zum Weihnachtsfest gekocht. Nachdem die Teller geleert waren, kränkte mich ein „Na ja“ oft mehr als konkrete Kritik.

Irgendwann einmal reichte es mir. Ich erklärte die Küche für den 1. Weihnachtstag für mich zum Sperrgebiet. Mein Mann nahm die Herausforderung an. Er kaufte sich mehrere Kochbücher, dessen Preis so hoch war, wie die Rechnung einiger Essen in einem Nobelrestaurant.

Am Heiligabend verriet er mir aufgeregt: „Morgen gibt es Ente mit Rotkohl, gebutterte Kartoffeln und Pudding mit Karamelsoße.“ Er hatte am 1. Weihnachtstag den Tisch fürstlich gedeckt. Die Ente auf dem Goldrandteller sah aus, als hätte sie schon viele Jahre gerupft in einem Solarium gelebt. Nach dem Tranchieren des dunkelhäutigen Tieres blähte sich in seinem Innern ein Plastebeutel, in dem Herz, Leber und Magen blubberten, als wären sie noch sehr lebendig. Der Rotkohl schmeckte, obwohl er die Konsistenz von Spinat aus der Dose hatte. In der Soße tummelten sich Mehlklöße mit bizarren Formen. Dergleichen war meinem Mann zu Silvester beim Bleigießen noch nie gelungen.

Als ich mit der Gabel eine gebutterte Kartoffel auf meinem Teller berührte, verwandelte sie sich in ein Wurfgeschoß. Mit einem Affenzahn zischte der heiße Erdapfel am linken Ohr meines Mannes vorbei. „Was soll das“, fragte er ruhig, aber doch sehr ungehalten, „willst Du mich umbringen?“ „Sie sind nicht gar“, antwortete ich, „Kartoffeln, die gar sind, fallen nicht mit so einem harten Klang von der gefliesten Wand, sondern sie bleiben für einen Moment kleben und rutschen lautlos hinab.“

Wer wissen will, wie es weiter geht, der sollte mein Buch „Vorfreude ohne Freude
und andere humorvolle Weihnachtsgeschichten“ lesen.

Dezember 2017


Was jetzt wichtig ist

Im November braucht mein Kopf eine warme Mütze und meine Stiefel Einlegesohlen aus Lammfell. Ich brauche eine Jacke, die bis über die Hüfte geht und Taschen hat, in die man die Hände stecken kann. Abends auf dem Sofa brauche ich eine XXL Kuscheldecke und mindestens so viele Kerzen auf dem Couchtisch wie die Anzahl der Geschwister der Kelly Familie, die jetzt bei ihren Comeback-Konzerten auf der Bühne stehen.
Was ich im November außerdem noch brauche, weiß die Frau, die zu den Marktagen mit ihrem Geflügelstand vor dem Güstrower Rathaus steht, ganz genau. Es bedarf schon lange keiner Worte mehr. Wenn ich an der Reihe bin, trennt sie mit ihrem scharfen Messer einem Suppenhuhn einen Schenkel ab, damit ich mir ein Süppchen kochen kann. Im November brauche ich ständig eine Suppe. Damit keine Langeweile auf dem Speiseplan entsteht, kommen nicht nur Hühnerschenkel mit Möhren, Sellerie und Porree in den Topf, sondern auch Wirsing, Steckrüben und Kürbis.
Aber im November rühre ich nicht nur in Kochtöpfen, sondern auch in der Badewanne. Zum warmen Wasser kommen zuerst Kokos- und Lavendelöl, dann Meersalz und danach ich hinein.
Und für meine Gehörgänge gibt es Yoga. Ich höre im November Balladen von Santa-Sofia Delliponti, die sich Oonagh nennt. Ihr keltischer Gesang entspannt mich ungemein.
Ich unternehme einiges, damit mich die Düsternis und Kälte dieses Monats nicht umhauen. Da muss ich jedes Jahr auf’s Neue immer wieder durch. Ich wünsche mir den Monat jedoch nicht anders, denn eine Bauernregel lautet: „November warm und klar, wenig Segen für’s nächste Jahr.“
Jedoch finde ich es unnötig, den November noch gruseliger zu machen, so wie Bastian Melnyk es in meinen Augen getan hat. Er ist nämlich der Erfinder zahlreicher Feiertage und hat den 12. November zum „Tag der schlechten Wortspiele“ erklärt. Zeitungen und Radiostationen berichteten eifrig darüber. Und so kamen mir all die fürchterlichen Wortspiele, wie zum Bleistift, Hallöchen Popöchen oder Tschüssikowski wieder zu Ohren. 2015 hat die Journalistin Carolin Gasteiger zu diesem Gedenktag in der Süddeutschen Zeitung geschrieben:
„Gegen schlechte Wortspiele hab‘ ich nichts. Zu mindestens nichts, was hilft. Und das, was hilft, entzieht sich meiner Chemnitz. Eine echte Zumäutung.“
Gegen die Verbreitung schlechter Wortspiele weiß auch ich kein Mittel. Aber zum Glück bin ich schon lange nicht mehr hilflos, wenn der November seinen Blues anstimmt.

November 2017


Steine aus Brüssel

Ich muss unbedingt einmal nach Bohmte, in die kleine Stadt in Niedersachsen. Dort gibt es seit 2008 im Zentrum der Stadt keine Verkehrsschilder, keine Ampeln und keine Bürgersteige mehr. Es gilt nur Paragraf 1 der StVO – ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Die Verkehrsteilnehmer sollen sich strikt daran halten. Obwohl alle langsamer fahren, kommen sie nun trotzdem schneller durch die Stadt.

An deutschen Straßen gibt es 20 Millionen Verkehrsschilder. Wäre es nicht schön, wenn es überall ein wenig so wie in Bohmte wäre?

Es täte uns allen gut, wenn die vielen Vorschriften in Deutschland minimiert werden. Man soll sie ja nicht alle abschaffen, denn ein Leben ohne Vorschriften würde im Chaos enden. Einige von den zehn Vorschriften, die der liebe Gott uns vor Ewigkeiten auferlegt hat, erscheinen mir durchaus nützlich.

Doch mein Nachbar ignoriert im Sommer immer das dritte Gebot. Er heiligt den Feiertag nicht, sondern mäht dann regelmäßig seinen Rasen und geht straffrei aus. Letzteres passiert mir nie, wenn ich später, als es mein Parkschein vorschreibt, vor meinem Auto stehe. Ich habe dann immer einen Strafzettel an meinem Scheibenwischer.

Aber es gibt finanziell gesehen noch Schlimmeres. Eine Strafe von 791.000 Euro wäre 2004 fällig gewesen, wenn der Landtag in Mecklenburg-Vorpommern nicht auf Wunsch der EU-Kommission ein Seilbahngesetz verabschiedet hätte.

Wir haben zwar Berge, die uns hier auf dem platten Land mächtig gewaltig erscheinen, aber sie liegen nur 179 m über dem Meeresspiegel. Für solche Erhöhungen bedarf es nie einer Seilbahn. Warum also so ein Gesetz? Aber vielleicht haben die Beamten in Brüssel etwas nicht richtig gecheckt. Vielleicht haben sie bei Berichten über Wachstumsprognosen in unserem Land gedacht, dass die auch für unsere Berge gelten.

Man weiß nie so recht, was in den Köpfen der EU-Beamten vorgeht. Warum haben sie eine Schnullerkettenverordnung erarbeitet, die 52 Seiten umfasst? Warum schreiben sie für Staubsauger eine geringere Watt-Zahl vor, die uns zwingt länger zu saugen? Warum eine Leiter-Richtlinie? Wenn ich Handwerker wäre, würde ich mich nach dem Lesen dieser Richtlinie nie mehr auf eine Leiter trauen.

Viele Verordnungen aus Brüssel kommen mir vor wie Steine, die uns in den Weg gelegt werden. Goethe meinte ja, dass man damit auch Schönes bauen kann. Aber mit den Steinen aus Brüssel scheint mir das völlig ausgeschlossen zu sein.

Oktober 2017


Lachen steigert die Verkaufszahlen

„Das Paradies der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, in der Gesundheit des Leibes und am Busen des Weibes.“
Diese Worte von Friedrich Martin von Bodenstedt mögen ja auch heute noch für so manchen zutreffen. Für mich befindet sich das Paradies hier bei mir in Mecklenburg. Und das auch wegen der vielen märchenhaften Schlösser. Dreimal lang hingeschlagen, in welche Himmelsrichtung auch immer, und schon hat man ein Schloss vor der Nase.
Im September, kurz nach meinem Geburtstag, bin ich im Schloss Kaarz aufgeschlagen. 1994 ist es „auferstanden aus Ruinen“. Das sind Worte aus der Nationalhymne der DDR, die seit 1973 nur noch gesummt und nicht mehr gesungen werden durfte, weil es in der Hymne auch hieß „Deutschland einig Vaterland“. Und als das Land endlich wieder einig war, haben die Alteigentümer das marode und ausgeschlachtete Gebäude meistbietend zurückgekauft, restauriert und zu einem Hotel umgebaut. Eingerichtet wurde es nicht prunk- sondern liebevoll. Ich fühlte mich schon beim Gang über die Schwelle heimisch. Die üppigen Arrangements von Kunstblumen störten mich nicht. Geniale Täuschungen haben mich schon immer fasziniert. Und auch die Fürsorge im Haus begeisterte mich. Gummistiefel standen bereit, damit man trockenen Fußes durch den Park kommt. Der ist nämlich fast so groß wie 10 Fußballfelder. Die Mammutbäume sind auch gewaltig. Wenn man allein ist, kann man sie leider nicht umarmen. Als ich das Schloss besuchte, hatte man den Rasen gerade frisch gemäht. Er wirkte so schier und glatt wie das Männerkinn aus der Fernsehwerbung, bei der zum Ende immer der absurde Spruch „Für das Beste im Mann“ ertönt.
Weil es ausnahmsweise mal nicht regnete, setzte ich mich auf die Terrasse, bestellte mir Kaffee und Kuchen und holte mein Geburtstagsgeschenk aus der Tasche.
Was nach ein paar Minuten geschah, hatte ich bereits erwartet. Es bewegten sich 80 von meinen Muskeln, meine Nasenlöcher weiteten sich, die Luft schoss mit 100km/h durch meine Lungen, mein Blutdruck sank, meine Eingeweide wurden massiert und mein Zwerchfell vibrierte. So etwas passiert, wenn man lachen muss. Und auch bei dem neuesten Buch von Wladimir Kaminer konnte ich es wieder so kräftig, wie bei allen vorherigen. 20 Sekunden Lachen ist so, als wenn man drei Minuten schnell rudert. Ich habe aus dem Buch „Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger“ zwar nur eine Geschichte gelesen, aber ich habe lange gerudert. Mit tränenden Augen habe ich die Rechnung bezahlt, nicht wegen des Preises, sondern wegen Kaminer. Das Paar, das auf der oberen Terrasse saß, winkte mir zum Abschied zu. Die Frau rief mir hinterher denn sie wollte den Autor und den Titel dieses köstlichen Buches wissen.
Und falls demnächst jemand Wladimir Kaminer trifft, dann sollte man ihm berichten, dass die Verkaufszahlen seines Buches allein schon durch Vorlachen zu steigern sind.

September 2017


Schweigen im Wartezimmer

„Der Tag ist 24 Stunden lang, aber unterschiedlich breit“, hat Wolfgang Neuss gesagt. Besonders breit ist er für mich in Wartezimmern von Arztpraxen. Man trifft dort ja selten Bekannte, mit denen man sich die Zeit durch ein Gespräch verkürzen kann. Wie soll man dort mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommen? Man kann ja schlecht fragen: „Geht es Ihnen auch nicht gut?“ Wer keine Löcher ins Handy oder in die Luft starren will, greift zu den betagten Frauenzeitschriften. Das tun sogar Männer in Arztpraxen. Die Hoffnung, dass ein Sudoku oder ein Kreuzworträtsel noch nicht ausgefüllt ist, erfüllt sich in gut frequentierten Praxen nie. Aber in einer der abgegriffenen Frauenzeitschriften machte ich jetzt auf der letzten Seite eine erstaunliche Entdeckung. Da war ein Gedicht von Rilke abgedruckt. Es beginnt mit den Zeilen „Die Nacht holt heimlich durch des Vorhangs Falten aus deinem Haar vergessenen Sonnenschein …“ Das ist Wortmusik in meinen Ohren. Ich habe in diesem Augenblick auch an Jogi Löw denken müssen. Der kann nämlich etwas, was ich nicht kann. Er kann Rilke auswendig. Als sich Löw 2016, nach einem Europameisterschafts-Spiel wieder einmal von einem Journalisten anhören musste, dass das letzte Tor doch zu vermeiden gewesen wäre, hat er grandios reagiert. Der Bundestrainer hat das Gedicht „Der Ball“ von Rilke zitiert.
Die Fangemeinde von Rilke ist groß. Ob Helmut Kohl auch dazu gehörte, bezweifele ich, obwohl er im eisigkalten April 1989 Rilkes Grab in Raron besucht hat. Ich denke, weil Kohl dachte, das gehört sich so, wenn man in der Schweiz auf Staatsbesuch ist. Kohl war Fan vom Pfälzer Saumagen. Wenn er auch von Rilke geschwärmt hätte, wäre uns das sicher nicht verborgen geblieben.
Die Seite mit dem Gedicht von Rilke aus der Frauenzeitschrift in der Arztpraxis habe ich übrigens rausgerissen. Wäre sie in einem Buch gewesen, hätte ich das nie getan. Aber betagte Zeitschriften werden irgendwann entsorgt. Durch mein Tun habe ich eins von Rilkes Gedichten vor der Versenkung in der blauen Tonne bewahrt.
Unauffällig konnte ich die Seite nicht entfernen. Das Ritsch und Ratsch wurde mit strafenden Blicken kommentiert. Schade, dass sich niemand aufgeregt hat. Dann wäre doch noch ein Gespräch entstanden. Ich hätte mich gerne gerechtfertigt und gebettelt: „Ach, gönnen Sie mir doch dieses Gedicht von einem großartigen Dichter für meine Pinnwand. Lassen Sie mich doch bitte seine Worte nach Hause tragen. Lady Gaga trägt Rilkes Worte sogar auf der Haut. Wussten Sie das?“
Die herausgerissene Seite habe ich zusammengefaltet und vor aller Augen in meine Handtasche gesteckt. Im Wartezimmer blieb es bis zu meinem Aufruf so wie im Wanderers Nachtlied von Gothe. Es herrschte Schweigen im Walde.

August 2017


Lust und Frust bei der Partnersuche

Vor vierzig Jahren habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Ich war ganz allein im Saal, als ich ihn jetzt wieder traf. Das hatte ich nicht erwartet. Aber in meiner Kleinstadt geht vorwiegend die Jugend ins Kino und der Schauspieler Pierre Richard sagt den jungen Leuten nichts. Sie waren noch meilenweit von ihrer Geburt entfernt, als Anfang der siebziger Jahre der Film „Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh“ lief.
Ich habe den Film damals gesehen. Eine wunderbare Parodie über Geheimdienste. In „Monsieur Pierre geht online“, seinem neuesten Film, wird das Kennenlernen in Dating-Portalen parodiert. Der achtzigjährige Monsieur verguckt sich in die 31-jährige Flora und gibt sich als ebenso alter Sinologe aus. Die beiden chatten ganz verliebt und wie verrückt. Damit der Schwindel nicht auffliegt, überzeugt Pierre mit Geld und der Mitleidstour einen jungen Mann ihn beim ersten Treffen zu vertreten. Dass der junge Mann Freund seiner Enkelin ist und sich in Flora verliebt, ahnt er nicht. Der Schluss des Films ist schön kitschig. Es ist halt leichte, aber dennoch lustige Kost aus Frankreich.
Dem Journalisten Peter Praschl blieb jedoch das Lachen im Halse stecken. „Zwei Männer tun sich zusammen, um eine Frau zu belügen und zu betrügen, bis sie liebestoll und sexuell zugänglich wird“, schrieb er in der „Welt“. Für ihn ist der Film keine Komödie. Für mich schon, weil eine schlechte Sitte lächerlich gemacht wird.
Dass in Dating-Portalen und Kontaktanzeigen gelogen und betrogen wird, ist hinlänglich bekannt. Auf diese schlechte Sitte kann man entweder mit weinendem oder lachendem Auge sehen. Letzteres ist mir lieber.
Männer sind beim Schummeln übrigens eifriger als Frauen. Sie stellen sich gern größer dar, als sie es sind. Frauen machen sich oft um einige Kilos leichter. Glaubt man den Männern, die in Anzeigen ihr Interesse an Kunst, Kultur und Natur bekunden, dann müsste man sie in Scharen in Theatern, Kinos, an der Ostsee und im Wald treffen.
Dass reale Kontaktanzeigen so lustig sein können, wie die Filme mit Pierre Richard, hat mir das Buch „Suche Frau in anständigem Zustand“ von Birgit Adam gezeigt. Sie präsentiert die witzigsten Kontaktanzeigen der Welt.
Eine davon lautet:
„Rentner, Nichtraucher, Nichttrinker sucht alleinstehende gesunde Frau mit Haus und Ölheizung. Er möchte Kaninchen halten.“

Juli 2017


Zwei Minuten

Heute schreibe ich nicht was mir in zwei Minuten, sondern zu zwei Minuten eingefallen ist. Und das ist eine Menge. Ich fange mit der Zwei Minuten-Regel an. Damit habe ich meine Aufschieberitis richtig gut in den Griff bekommen. Die Regel besagt nämlich, dass man alle Aufgaben, die weniger als zwei Minuten dauern, sofort erledigen soll. Ich staune immer noch, was sich in 120 Sekunden alles erledigen lässt.
In genau dieser Zeit kann übrigens ein Bekannter von mir die lauwarmen Flaschenbiere, die seine Gäste zur Grillparty mitbringen, kühlen. Er bedeckt die Flaschen mit Eiswürfeln, streut Kochsalz darüber. Zack, nach zwei Minuten ist das Bier kalt.
Leider nicht dabei war ich, als der Hamburger Fotograf Paul Ripke Prominente nach ihrem Interview bei Reinhold Beckmann fotografierte. Versprochen hatte er dem Fernsehmoderator, dass er dafür nicht mehr und nicht weniger als zwei Minuten braucht. Wie großartig die Bilder nach so einer kurzen Fotosession geworden sind, konnte ich in dem Fotoband „Zwei Minuten Zufall“ sehen.
Beeindruckt hat mich auch Barbara Schöneberger mit ihrem Song „Zwei Minuten“. Da listet sie 19 Dinge auf, die zwei Minuten dauern. Nun weiß ich, dass man zwei Minuten ohne Knöllchen mitten in Berlin parken und in zwei Minuten ein Origami- Einhorn falten kann, wenn man weiß, wie es geht. Im Refrain ihres Liedes heißt es „Zwei Minuten sind nicht wenig und nicht viel.“
Wie relativ Zeit sein kann, hat Albert Einstein genial erklärt. Zwei Stunden mit einem netten Menschen erscheinen uns wie eine Minute. Aber eine Minute mit dem Hintern auf einem heißen Herd kommen einem wie zwei Stunden vor, meinte er.
Die längsten zwei Minuten meines Lebens habe ich im Film „Psycho“ von Alfred Hitchcock erlebt. So lang dauert die Duschszene, an deren Ende eine Frau von Messerstichen durchbohrt tot am Boden liegt. Das zu sehen, hat mir das Duschen hinter einem Vorhang bis in alle Ewigkeit vermasselt. Und das, obwohl ich weiß, dass in dieser Szene nicht einmal Kunstblut, sondern Schokoladensirup floss.
In Hotels, in denen es Duschen mit Vorhang gibt, dusche ich stets weniger als zwei Minuten. Zum Glück geht es mir nicht so wie einst einem jungen Mädchen. Ihr Vater hatte wütend an Hitchcock geschrieben, dass seine Tochter, nachdem sie den Film „Psycho“ gesehen hat, nicht mehr unter die Dusche geht. Die Antwort des berühmten Regisseurs lautete „Schicken Sie sie in die Reinigung“.

Juni 2017


Wenn die Neugier nicht wär

Casanova behauptete, dass die Liebe zu drei Vierteln aus Neugier besteht. Nicht nur die Liebe, ich auch. Und es wird bei mir nicht weniger, denn meine Neugier wird immer wieder neu entfacht.
Kurz vor dem 1. Mai lag eine Karte in meinem Briefkasten. Darauf war das Datum 1. Mai und „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ zu lesen und zu sehen waren rauchende Fabrikschornsteine. Die Zeile aus einem alten deutschen Arbeiterlied kombiniert mit qualmenden Schloten hat mich wahnsinnig neugierig gemacht auf die Vernissage der Plakate des Grafikdesigners Klaus Staeck in der Galerie Rambow.
Als ich am 1. Mai am Domplatz 16 in Güstrow ankam, hatte das Teterower Schalmeien-Orchester gerade losgelegt. Nicht plakativ mit dem Lied „Brüder zur Sonne zur Freiheit“, sondern mit einem modernen Song, der in die Beine ging. Flotten Schrittes strömte ich mit den anderen Besuchern in das Backsteinhaus.
Wir standen in der geräumigen Galerie dichtgedrängt wie Ölsardinen, und wir standen lange, denn zur Vernissage sprach der Künstler und Kunsthistoriker Bazon Brock. Ein Philosoph, ein Querdenker und Schöpfer neuer Worte. So einem Mann mit einem unerschöpflichen Bildungsschatz zu folgen ist nicht einfach. Bazon Brock kam immer mehr in Fahrt und mein knurrender Magen auch. Das lag daran, dass ich seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte und ein Mann vor mir ständig sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte. So erhaschte ich immer wieder einen Blick auf das noch unberührte Büfett. Beim Anblick knackiger Baguettes und eines weißleuchtenden Camemberts von der Größe eines Kinderwagenrades wurde der schräge Sound aus meiner Bauchhöhle immer lauter. Konzentriert blickte ich auf die ausgestellten Plakate. Unter die bekannte Bleistiftzeichnung von Dürers Mutter hat Klaus Staeck die Frage gesetzt hat „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“
Wegen dieser außergewöhnlichen Kombination von Bild und Wort, mit denen Klaus Staeck gesellschaftliche Missstände stets auf den Punkt bringt, nannte Bazon Brock den Grafikdesigner einen Meister.
Als der Geehrte nach den vorangegangenen Reden selbst auch noch längere Zeit zu den Besuchern sprach, klingelte plötzlich sein Handy. Er holte es aus der Jackentasche und blickte liebevoll zu einer Frau im Publikum, die auch ein Handy in der Hand hielt. „Oh“, sagte er, „mir wird gerade signalisiert, dass nun genug geredet wurde.“
Neugierig sprach ich nach dem Schlussapplaus die Frau mit dem Handy an. Nun weiß ich, dass Klaus Staeck eine humorvolle Freundin hat, und ich weiß auch, dass Neugier sogar Hungerattacken eindämpfen kann. Denn erst nach dem Gespräch mit ihr habe ich mir ein Stück vom Camembert geholt.

Mai 2017