Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Nur für die
Deutsche Bahn trifft das nicht zu. Sie beschwindelt uns auch mit
ihrem Fahrplan. Das ist nämlich gar kein Fahrplan, sondern eine
unverbindliche Abfahrtsempfehlung. Warum nimmt sich die
Deutsche Bahn nicht die japanische Staatsbahn zum Vorbild?
Japan ist ein Paradies für Bahnreisende. Verspätungen wie in
Deutschland sind im Land der Morgenröte undenkbar. Als
Zugreisender in Deutschland ist man total verwundert, wenn
einmal keine Verspätung angesagt wird. Und alles unter sechs
Minuten zählt bei der Bahn gar nicht als Verspätung.
Unbegreiflich für alle, die Pünktlichkeit ernst nehmen. Das tun
immerhin 84 % der Menschen in Deutschland. Ich gehöre auch
dazu.
Deshalb fahre ich generell mit dem Auto zu meinen Lesungen.
Ein Vierteljahrhundert arbeite ich nun schon als Schriftstellerin.
In all den Jahren bin ich nur ein einziges Mal zu einer Lesung
vor einer Schulklasse zu spät gekommen. Das lag allerdings
nicht an mir, sondern an drei verirrten Kühen. Ich und viele
andere Autofahrer trödelten den Kühen im Schritttempo auf
einer Landstraße hinterher. Niemand hupte, um die Kühe nicht
zum Galoppieren zu animieren. Vielleicht hätten die Männer, die
den Kühen hinterherliefen, sie eher von der Straße bekommen,
wenn sie keine freundlichen Polizisten, sondern echte Cowboys
gewesen wären.
Die Lehrerin, die mich sehnlichst zur Lesung erwartete, lächelte
etwas verbissen, als ich endlich eintraf. Ich denke, sie hat mir
die Geschichte mit den Kühen nicht abgenommen und war wohl
der Meinung, dass Schriftsteller am frühen Morgen nicht so
schnell aus den Federn kommen. Aber ich gehöre tatsächlich
zur Fraktion der Superpünktlichen.
Nur bei einer Bekannten werde ich in diesem Jahr eine
Ausnahme machen. Sie hat wieder einmal zu ihrer Gartenparty
eingeladen und um pünktliches Erscheinen um 16.00 Uhr
gebeten. Ich werde diesmal, so wie es alle ihre Gäste schon
lange tun, frühestens um 16.30 Uhr vor ihrer Tür stehen. Im
letzten Jahr war ich nämlich pünktlich und wurde von ihr im
Bademantel mit den Worten begrüßt: „Deck schon mal den
Tisch im Garten. Ich dusche noch fix.“
Nur einmal in meinem Leben war es wirklich von Vorteil, als ich
zu früh war. Ich bin nämlich nicht wie geplant am 13.Oktober auf
die Welt gekommen, sondern bereits am 16. September. So
habe ich noch die milden und sonnigen Tage vom
Altweibersommer erwischt. Kälte und Stürme kamen erst später.
Im September Geburtstag zu haben ist großartig. Ich habe den
16.9. schon sehr viele Jahre gefeiert. Inzwischen sage ich:
„Wieder ein Jahr älter, so ein Glück.“ Ich freue mich, wenn man
mir gratuliert – aber bitte nie zu früh und nie zu spät. Eine
Jungfrau schätzt Pünktlichkeit und dieses Sternzeichen habe ich
mir schließlich selbst ausgesucht.
September 2018