Tagträume machen glücklich. Das habe ich schon immer gewusst. Doch als ich Kind war, hatten sie noch ein schlechtes Image. Ich wurde stets gerügt, wenn ich in der Schule oder zu Hause vor mich hinträumte.
Inzwischen haben Psychologen und Neurowissenschaftler herausgefunden, dass Tagträume uns kreativer, willensstärker und vor allen Dingen glücklich machen. Es werden inzwischen sogar Tagtraum- Techniken angeboten. Solche Kurse muss ich nicht besuchen. Ich kann mich, wann immer ich will, aus der Wirklichkeit wegbeamen.
Es gab aber auch Zeiten, in denen es mir nicht leicht viel. Während meines Studiums und als berufstätige Mutter fand ich kaum Zeit für mein Kopfkino.
Inzwischen bin ich wieder mit Leidenschaft Regisseur und Hauptdarsteller meiner Tagträume, die mich entspannen, weil sie mir, wenn der Alltag stressig ist, einen winzigen Kurzurlaub schenken. Meine Traumreisen führen mich zu wunderschönen Orten und zu wunderbaren Menschen. Und ich werde, was ich nie für möglich gehalten hätte, mich demnächst in meinen Tagträumen mit Kentauren treffen. Diese Mischwesen aus der griechischen Mythologie, halb Mensch – halb Tier, die ich bisher auf Brunnen und in Büchern gesehen hatte, erschienen mir jedoch eher etwas für Alpträume zu sein. Der Kentauer im Logo der Drogeriekette Rossmann ist nicht furchterregend, aber mir zum Träumen zu abstrakt. Aber die Kentauren eines Malers aus Leipzig sind perfekt für mein Traumreich.
Im Februar habe ich sie in der Ausstellung „Erich Kissing und Kerstin – Maler und Modell“ in der Rostocker Kunsthalle entdeckt. Von dem 1943 in Leipzig geborenen Künstler werden 60 Bilder, fast das gesamte Werk, gezeigt. Die Phantasie-Flugobjekte von Kissing und das Bild, auf dem Kosmonaut Sigmund Jähn von intergalaktischen nackten Amazonen begrüßt wird, haben mich begeistert. Aber die Bilder mit den Kentauren haben mich regelrecht umgehauen. Die Fabelwesen sind genau aus dem Stoff gemacht, aus dem ich mir am liebsten meine Träume stricke. Es sind Bilder, die monatelang mit feinstem Pinsel auf riesige Leinwände gestrichelt wurden. Die Augen suggerieren einem, dass man das Pferdefell spüre könnte, wenn man die Leinwand berührt.
Kissing hat Malerei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studiert und war Schüler von Tübke und Mattheuer. Er ist ein bescheidener Mann und einer mit viel Humor. Auf dem Gemälde „Das Urteil des E.K.“ sieht man ihn als nackten Mann vor drei weiblichen Kentauren stehen. Er wird den Schönen nicht, wie es Paris bei seinen Auserwählten tat, einen Apfel, sondern eine Möhre reichen. Surrealismus mit Augenzwinkern und viel Sinnlichkeit. Kissings Kentauren nehme ich gern in meine Träume auf und sie werden mich sehr glücklich machen.
Februar 2018