Ich blicke täglich auf ein Paradies herab. Dazu muss ich mich
nur ans Küchenfenster stellen. Es grünt so grün im Garten
meiner Nachbarn, der kaum größer als 250 Quadratmeter ist.
Auf dieser Fläche gedeihen unendlich viele Blumen,
Steingewächse und in Töpfen sogar Bäumchen. Ich vermute,
dass meine Nachbarn keine zehn Finger an ihren Händen
haben, sondern an jeder Hand fünf grüne Daumen. Was in ihren
Hochbeeten wächst, reicht aus, um Salatschüsseln für eine
ganze Kompanie zu füllen. Bei Gartenfreunden aus meinem
Bekanntenkreis hängen Trauben an den Reben, die schon vor
der Ernte wie Rosinen aussehen. Die Trauben meiner Nachbarn
sind voller Saft und Kraft und gleichen ihren Schwestern aus
dem sonnigen Süden von Deutschland. Meine Nachbarn haben
ihre Blumen so gepflanzt, wie gute Maler die Farben auf die
Leinwand setzen. In der Nacht verwandeln viele kleine
Solarlampen die grüne Oase in ein sanft schimmerndes
Glühwürmchen-Meer.
Am Ende des Gartens steht eine Volliere mit einem perfekt
eingerichteten Schutzhaus für Wellensittiche, Hühner und den
Papagei. Die Wellensittiche sehen aus wie viele, viele bunte
Smarties mit Flügeln. Die kleinen Vögel trällern zu allen
Jahreszeiten aus voller Kehle und scheinen sich mit dem
vorwiegend kühlen Wetter hier im Norden arrangiert zu haben.
Wenn mein Handy besonders schrill klingelt, gehe ich nicht ran,
weil ich weiß, dass mich nur wieder einer von den
hochbegabten Sittichen bluffen will. Die Hühner meiner
Nachbarn sind, wie alle Freilebenden, glücklich. Wenn sie ein Ei
gelegt haben, dann teilen sie das den anderen Hühnern und mir
lautstark mit. Ansonsten halten sie den Schnabel. Das würde ich
mir vom Papagei der Nachbarn auch wünschen.
Er ist die Schlange in meinem Paradies unter dem
Küchenfenster. Jeden Tag begrüßt er den Morgen mit lautem Gekrächze.
Er schlägt so regelmäßig an wie eine Kirchturmuhr
und zum Abend legt er dann noch mal richtig los. Der Papagei
krächzt wie mein antiker Schrank, dessen Türen sich wie von
Geisterhand öffnen, wenn er nicht abgeschlossen ist. Mein
Schrank ist jedoch einige Dezibel leiser als der Papagei meiner
Nachbarn. Ich höre den Papagei noch bei geschlossenem
Fenster. Wenn das Fenster offen ist, verstehe ich den
Nachrichtensprecher aus dem Radio nicht mehr richtig und
verpasse womöglich Weltbewegendes. Gestern hörte ich nur
„Donald Trump hat…“ Was der amerikanische Präsident schon
wieder angestellt hat, blieb mir verborgen.
Wenn der Papagei meiner Nachbarn ein Dauerkrächzen
anstimmt, höre ich auch die Wohnungsklingel und das Telefon
nicht mehr.
Deshalb richte ich diese Zeilen an alle Menschen, die mich
kontaktieren wollen.
Wer vor meiner Tür steht, sollte Sturm klingeln und wer mich
anruft, sollte so lange warten, bis der Anrufbeantworter
anspringt. Ich rufe, garantiert zurück. Falls dann eigenartige
Geräusche zu hören sind, liegt es nicht an der Leitung, sondern
daran, dass meine Nachbarn einen schlimmen Vogel haben.
Juni 2018