Einmal hatten wir den letzten Baum, oder mit den Worten meiner
Mutter gesagt, es war der ALLERALLERLETZTE. Vater war einfach
zu spät losgegangen.
Als Mutter ihn mit seinem Mitbringsel erblickte, war sie der Meinung,
dass es völlig egal wäre, ob wir dieses Ding da oder ihren alten Besen
mit einer Lichterkette schmücken würden. Ihre Laune wurde auch
nicht besser, nachdem Vater ihr stolz erzählt hatte, dass er das
Bäumchen ganz umsonst und obendrein noch einen ganzen Sack
zusammengefegter Zweige geschenkt bekommen hat.
Mutter schüttelte sich und sagte: „Das Ding sieht so aus wie eine
ungerupfte Gans schmecken würde.“ Kopfschüttelnd verschwand sie
in der Küche.
Vater legte das platte Bäumchen behutsam auf den Wohnzimmertisch
und ernannte mich zu seiner OP-Schwester. Ich reichte ihm Bohrer,
Schnitzmesser, Meißel, Schrauben, Klebstoff und Pflaster.
Am späten Nachmittag waren wir mit der Schönheitsoperation fertig.
Alle Ersatzteilzweige waren aufgebraucht. Die Schnittstellen hatten
wir mit Lametta kaschiert. Keine Spur von braunen Nadeln, sie
strahlten im schönsten Grün aus meinem Tuschkasten. Unser
Bäumchen hatte sich wie einst Aschenputtel verwandelt. Es streckte so
erhaben seine Äste in die Höhe wie eine Filmdiva ihre Arme zum
Himmel richtet, wenn das Premierenpublikum ihr zujubelt.
„Na, was sagst du nun“, fragte Vater mit stolz geschwellter Brust.
„Einmalig“, antwortete Mutter, „so etwas hat keiner auf der ganzen
Welt, oder wisst ihr noch einen Ort, wo Kiefernzweige aus einer Tanne
ragen.“
(aus meinem Weihnachtsbuch „Vorfreude ohne Freude und andere
humorvolle Weihnachtsgeschichten)
Dezember 2018