Ich trage keine Haube, wenn ich Linsensuppe koche. Denn ich bin nicht in der Küche eines Nobelrestaurants beschäftigt, sondern ausschließlich am heimischen Herd. Und ich koche immer Linsensuppe, wenn meine Tochter mit ihrer Familie kommt.
Das einzige Haar, das mir beim Kochen ausfällt, findet immer meine Tochter in ihrer Suppe. Es ist eindeutig mein Haar, denn niemand außer mir am Tisch hat so feine, blonde Haare auf seinem Kopf.
Meine Tochter fischt das Haar ohne Kommentar heraus und lässt es schweigend zu Boden fallen. Sie holt sich trotzdem Nachschlag – manchmal sogar zweimal. Mein Schwiegersohn bedankt sich nach jeder Linsensuppe auf Schwedisch. Ich denke „tack för maten“ sagen stets alle Schweden, selbst dann, wenn ihnen das Essen nicht gemundet hat. Aber auch er holt sich stets Nachschlag.
Die siebenjährige Tochter meiner Tochter hebt nach dem ersten Löffel Linsensuppe ihren Arm hoch und ballt ihre kleine Hand zur Faust. Dann zeigt sie mit den Daumen nach unten und sagt: „So schmeckt Linsensuppe aus der Dose.“ Danach zeigt ihr Daumen zur Seite und sie sagt: „So schmeckt Linsensuppe, wenn Papa sie macht.“ Zum Schluss reckt sie den Daumen in die Höhe und sagt: „Und so schmeckt Linsensuppe von Oma.“
Die zweijährige Tochter meiner Tochter ruft nach jedem zweiten Löffel Suppe: „Leeeecker!“ Die Frage „Ist noch Suppe da?“ stellt keiner, denn ich koche stets zwei große Töpfe. Die Menge könnte für eine vierköpfige Familie und eine mitessende Köchin zwei Tage reichen, aber meine Linsensuppe schmeckt meiner Tochter und ihrem Mann auch kalt als Mitternachtssüppchen.
Ein Königreich für einen Teller Linsensuppe wurde mir in meiner Familie noch nicht angeboten. Ich würde das von meinen Kindern auch nicht annehmen, aber von wohlhabenden Fremden schon.
Ich wäre bereit mit ihnen wegen eines Tellers Linsensuppe einen Deal zu machen. Aber so weit wie Abrahams ältester Sohn würde ich nie gehen. In der Bibel wird nämlich berichtet, wie Esau, Abrahams jüngster Sohn, hungrig nach Hause kommt. Ihm steigt der Duft von Linsensuppe in die Nase. Sein Bruder Jakob hat sie gekocht und händigt dem Hungrigen erst dann einen Teller aus als, dieser ihm das Erstgeburtsrecht und damit den Doppelanteil am väterlichen Erbe zusichert.
Ich will mit meiner Linsensuppe nicht mein Konto, sondern mein Ego bereichern. Das Lob von meiner Tochter, ihrem Mann und ihren Kindern geht mir runter wie Butter. Und ich bin froh, dass meine Tochter das einzige Haar in ihrer Suppe nicht kommentiert. So blieb dieses Ereignis ihrer zweijährigen Tochter bisher verborgen. Einer der Lieblingssätze von dem Kind lautet nämlich „Mia auch.“ Man schmilzt dahin, wenn sie dann noch ein „bittäh“ hinterherschiebt. Ich gönne meinem Enkelkind wirklich alles, aber niemals ein Haar von mir in seiner Suppe.
Dennoch werde ich auch demnächst beim Kochen keine Haube tragen. Vor langer Zeit wurde mir beim Frisör zum Strähnchen färben eine aufgesetzt. Bis zu diesem Augenblick war ich tatsächlich der Meinung, dass einen schönen Menschen nichts entstellen kann. Welch ein Irrtum! Diesen Anblick muss ich der kleinen Mia ersparen. Es würde sie völlig verwirren, wenn ich mit einer Haube auf dem Kopf im Topf rühre. Sie will Linsensuppe von mir und keine, die ein hässlicher Gnom gekocht hat. Das Mädchen ist schnell zu erschrecken.
Als ich das letzte Mal bei meiner Tochter zu Besuch war, kam sie in Begleitung mit Mia in mein Zimmer. Es war Morgen und ich schlief noch zugeschüttet unter meinem Federbett. Und ich habe, wie man mir später mitteilte, tierisch geschnarcht. „Was ist das?“, fragte die Kleine mit weit aufgerissenen Augen, „Tiger?“
Meine Tochter antwortete: „Nein, Oma.“
PS: Interessierte erhalten nach Zusendung eines frankierten Briefumschlags das Rezept für die Linsensuppe und ein Haar von mir – solange der Vorrat reicht.
Oktober 2018